Wie positiv die «Positive Psychologie» wirklich ist
Eine Reform in der psychologischen Fachwelt versucht, nicht nur psychische Krankheiten zu heilen, sondern auch das Leben gesunder Menschen lebenswerter zu machen. Dieser Ansatz ist eine Herausforderung – auch aus christlicher Sicht. Gedanken von Andreas M. Walker.
In meinem vierten Lebenssechstel habe ich
nochmals eine Weiterbildung begonnen: Nein, kein CAS in «Digital
Leadership», und auch nicht «Artificial Intelligence and New Work». Ich
studiere «Positive Psychologie» an der Deutschen Hochschule für
Gesundheit und Sport.
Und ich fühle mich zutiefst herausgefordert:
Yoga, Buddhismus, Meditation und Dalai Lama sind bei meinen
Studienkolleginnen und -kollegen omnipräsent. Und es gibt nirgends einen
Hinweis auf biblische Quellen und christliche Denkerinnen und Denker.
Eigentlich fühle ich mich schon seit zwei Jahren herausgefordert, denn
meine junge Frau arbeitet als Sozialpädagogin in einem Kinderheim auf
den Grundlagen der positiven Psychologie. Bei ihren Aussagen zu Methoden
und Konzepten merke ich auf und denke bei mir selbst: «Zu jeder dieser
Ideen kenne ich doch schon eine biblische Geschichte und eine Handvoll
Bibelverse, die schon vor 2000 Jahren darauf hingewiesen haben.»
Zwischen dem Terror des Positiven und Endzeit-Ängsten
Als
ich auf meinen Social Media Kanälen begann, über Themen meines neuen
Studiums zu berichten, meldete sich umgehend eine bekannte deutsche
Christin. Sie empfahl mir einen aktuellen SPIEGEL-Bestseller. Er trägt
den provokativen Titel «Ich möchte lieber nicht: Eine Rebellion gegen
den Terror des Positiven. Eine Befreiung aus dem Zwang zum Glücklichsein
und des positiven Denkens».
Ich denke an meine eigene jugendliche
christliche Sozialisierung zurück: Wie wichtig war es in meinem
evangelischen Glauben, dass wir «ernsthafte Christenmenschen» sind, dass
wir uns mit unserem schlechten Gewissen, unserem «sündhaften Wesen» und
unseren «fleischlichen Lüsten» selbstkritisch und selbstanklagend
auseinandersetzen; und wie viele meiner Seelsorgegespräche und
Befreiungsgebete haben sich auf meine verborgenen Sünden fokussiert?
Als Baby Boomer (geboren nach dem Zweiten Weltkrieg bis Mitte der 60er-Jahre)und Vertreter der Generation X (zwischen 1965 und 1980 geboren)
haben wir viele moralisierende Debatten geführt: gegen die
Spassgesellschaft, dass nun Schluss mit lustig sei, dass die Sünde
überhandnehme und dass das apokalyptische Ende der Welt nahe sei. Wir
waren uns einig: Es muss den Menschen noch viel schlechter gehen, damit
sie endlich erkennen, dass sie Gott nötig haben, damit sie Busse tun und
von der Sünde ablassen. Heute fachsimpeln wir hitzig und entnervt über
Pandemien und Versorgungsengpässe im Welthandel, über Klimakatastrophen,
über den Ukrainekrieg, die daraus resultierende Energiekrise und
Hungersnot – und ob dies nun Zeichen der Endzeit seien. Zugleich nehmen
Stresssymptome, Burn-Outs, Depressionen und Angststörungen zu.
Und dann wundern wir uns, weshalb die Generation Z (zwischen 1995 und 2010 geboren, nach der Generation Y)
sich weigert, in unsere Leistungsgesellschaft einzusteigen, unter deren
Regeln wir uns während den letzten Jahrzehnten gebeugt haben. Unsere
Söhne wollen nicht mehr das Leben leben, das wir als Väter und
Grossväter ihnen vorgelebt haben. Unsere Töchter werfen uns vor, dass
wir eine nachhaltig lebenswerte Zukunft auf diesem Planeten
verunmöglichen würden. Und wir selbst werden zu weissen Wutbürgern («angry white old men»).
Hitzige Debatten über die alten und zahlreichen neuen Sünden sind
wieder da, oh ja, unsere Welt ist wieder moralisch geworden. – Bloss: Wo
bleiben da die gute Nachricht und die frohe Botschaft?
Die gute Nachricht
Im
Angesicht von Sorgenbarometer, Angstbarometer, Gefährdungskatalog
Schweiz und dem Boom neuer Ausbildungen für ein besseres
Krisenmanagement habe ich vor rund zehn Jahren das Hoffnungsbarometer
initiiert. In meinem intensiven persönlichen Bibelstudium habe ich
damals erkannt, dass das individuelle menschliche Leben zu biblischen
Zeiten weit gefährlicher und bedrohter war als heute. Und dass die
biblischen Antworten darauf nie Angstmacherei, Maximierung von Kummer
und Sorge und schon gar nicht Jammerei und Fremdanklage hiessen,
sondern: Hoffnung, Zuversicht und Gottvertrauen.
Vor fünf Jahren
hat mich die Scripture Union, der Dachverband des Bibellesebundes, als
Redner an ihre Weltkonferenz eingeladen. Diese Begegnung mit der
weltweiten Christenheit war faszinierend für mich. Zugleich war ich aber
auch zutiefst verwirrt: Noch nie hatte ich so viele Männer in meinem
Alter gesehen, die so viel gelacht und gekichert haben. Männer, die
allesamt aus dem ärmsten 50 Ländern der Welt ausserhalb Europas kamen
und die nicht in freien Demokratien lebten.
Wie hat schon
Friedrich Nietzsche gelästert? «Die Christen müssten mir erlöster
aussehen. Bessere Lieder müssten sie mir singen, wenn ich an ihren
Erlöser glauben sollte.» Mir scheint, dass wir uns irgendwo verirrt
haben: zwischen der Vertreibung aus dem Paradies, dem goldenen Kalb, der
Versuchung in der Wüste, der Kreuzigung an Karfreitag, der Angst vor
den Endzeit-Narrativen der Offenbarung und unzähligen moralischen
Busspredigten.
Heute frage ich mich: Sind die Sehnsüchte der
positiven Psychologie vielleicht nichts anderes als die Sehnsüchte nach
den «Früchten des Geistes», die Paulus in seinem Brief an die Galater
thematisiert hat? Er sagt es so: «Doch die Frucht, die der Geist wachsen
lässt, ist: Liebe, Freude, Frieden, Geduld, Freundlichkeit, Güte,
Treue, Sanftmut und Selbstbeherrschung.» (Galater Kapitel 5, Verse 22–23a)
Ostern für das 21. Jahrhundert
Ich
weiss nicht, wo Sie stehen. Ich selbst möchte aber sicher nicht zum
«angry white old man» werden. Ich mache mich auf den Weg, die Synergien
zwischen den aktuellen wissenschaftlichen Studien der Positiven
Psychologie, den alten biblischen Weisheiten und der christlichen
Frohbotschaft zu erschliessen. Ich will wissen, wie Ostern 4.0 für das
21. Jahrhundert aussehen kann. Kommen Sie mit?
Zum Autor:
Dr. Andreas M. Walker zählt zu den führenden Zukunfts- und
Veränderungsexperten der Schweiz. Er war 2009-2018 Co-Präsident und ist
seit 2020 Ehrenmitglied von «swissfuture». 2009 begründete er das
Hoffnungsbarometer als Antwort auf das Sorgen- und das Angstbarometer.
Walker ist assoziiertes Mitglied der Swiss Positive Psychology
Association SWIPPA sowie Mitglied des Dachverbandes für Positive
Psychologie DACH-PP e.V.
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