Viele Menschen seien unglücklich, weil sie sich mit denjenigen vergleichen, denen es scheinbar besser geht. Kerstin Hack möchte dazu ermutigen, die Perspektive zu ändern und so zufriedener auf das eigene Leben zu blicken. In ihrem Ratgeber erklärt sie, wie dieser Perspektivwechsel gelingen kann.
Ärgere dich nicht
darüber, dass der Rosenstrauch Dornen trägt, sondern freue dich darüber, dass
der Dornenstrauch Rosen trägt. —Arabisches Sprichwort
«Danke für meine
Arbeitsstelle», sang der Strassenmusiker. Ich weiss nicht, ob er von Herzen
meinte, was er da sang. Dennoch berührte es mich. Wie der Text weitergeht, weiss
ich noch aus meinen Kindertagen: «Danke für jedes kleine Glück. Danke für alles
Frohe, Helle und für die Musik.»
Für das Schöne im Leben zu
danken – das fällt leicht. Doch könnte ich Gott und dem Leben auch dankbar
sein, wenn ich mein Geld mit Strassenmusik verdienen müsste? Ich hatte, als ich
an dem Musiker vorbeilief, einen Strauss Tulpen im Fahrradkorb. Blumen liebe
ich. Tulpen finde ich besonders schön!
Perspektivwechsel
Mich hat die Begegnung sehr
berührt. Im Grunde ist da ein Perspektivwechsel passiert. Beim Zuhören habe ich
mein Leben mit dem verglichen, wie ich mir sein Leben vorstelle. Durch diese
andere Betrachtungsweise habe ich die Schätze, die ich habe, neu entdeckt. Ich
bin dankbar, dass ich es mir leisten kann, Blumen anzupflanzen und manchmal
auch zu kaufen.
An meinen schlechten Tagen sehe
ich vor allem die Schwierigkeiten und Herausforderungen, die mein Leben als
Autorin und Verlegerin mit sich bringt. Die Begegnung mit dem dankbaren
Musikanten half mir, meinen Blick auf andere Aspekte zu richten.
Manchmal muss man nur die
Blickrichtung ändern. Der Blick einiger Menschen geht beim Vergleichen stets
nach oben. Sie vergleichen sich immer mit denjenigen, denen es vermeintlich
besser geht als ihnen. Sie blicken neidvoll auf die Mitmenschen, die reicher,
glücklicher oder gesünder sind. Das führt nur zu Frust.
Das ganze Bild sehen
Ausserdem ist es so, dass wir
vom Leben der Reichen und Schönen auch immer nur Bruchteile sehen. Wir wissen
nicht wirklich, wie ihr Leben war und ist.
Andere sehen nur einen
Aspekt. Vor einer Weile sass ich während eines Vortrags neben einer Bekannten.
Der Redner sprach von seinen unerfüllten Sehnsüchten. Ich wurde beim Zuhören
immer nervöser. Nur träumerisch in Sehnsucht schwelgen nützt selten etwas, Ich
mag es lieber, wenn Menschen tatkräftig anpacken.
Meiner Nachbarin ging es
ganz anders. «Wie wunderbar muss es sein, mit so einem feinfühligen Mann
verheiratet zu sein?», seufzte sie. Zugegeben – ihr eigener Mann ist etwas
rauer. Er ist jedoch sehr herzlich, kann gut anpacken und kriegt wirklich etwas
bewegt. Ich fragte mich, ob sie mit dem sehnsuchtsvollen Redner wirklich
glücklicher wäre? Wenn er vielleicht immer nur von einem schönen Garten träumt,
aber nie praktisch mit anpackt. Vielleicht würden ihr mit ihm ganz andere Dinge
fehlen.
Anders gesagt: Wenn man sich
schon mit anderen vergleichen will, sollte man nicht nur einen Aspekt
auswählen, sondern möglichst alle. Das könnte dann vielleicht eine spannende
Perspektive geben.
Vergleichen nach unten
Wenn man sich schon mit
anderen vergleichen will, sollte man die auswählen, denen es schlechter geht.
Millionen Menschen mangelt es an Nahrung, Bildung und Perspektive. Im April
2019 habe ich in einem Flüchtlingslager mitgeholfen, wo sich bis zu 40 Menschen
ein Zelt teilen, das kaum grösser ist als meine Wohnküche, die ich für mich
alleine habe.
Es ist leichter dankbar zu
sein, wenn man sich mit den 98% der Menschheit vergleicht, denen es in vieler
Hinsicht schlechter geht als uns. Der Blick auf die 2% reicheren und scheinbar
glücklicheren Menschen verdirbt die Laune und verschwendet kostbare Lebenszeit.
Die Perspektive zu wechseln und sich mit den vielen zu vergleichen, denen es
zumindest materiell schlechter geht als uns, wird wahrscheinlich zu mehr
Dankbarkeit führen.
Praxistipps
■
Notiere: Was siehst du, wenn du dein
Leben aus einer anderen Perspektive betrachtest? Was würde jemand sehen, der
aus einem anderen Land kommt, ein anderes Alter oder Geschlecht hat?
■
Optisch: Betrachte etwas aus einer
anderen Perspektive als sonst: deinen Tisch, deine Wohnung, deinen Partner,
deine Stadt. Was fällt dir auf?
Medientipps
■ Das
Leben ist schön. Regie: Roberto Benigni. Universum Film GmbH, 1997. Ein wunderbarer
Film über die Kunst, in schwierigsten Situtionen noch dankbar zusein.