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Markus Giger ist bekannt als Pfarrer der bekannten «Streetchurch» in Zürich und zum Beispiel als Seelsorger von «Carlos». Sein Leben hat ihn für die Begleitung von jungen Menschen, die eine schwere Kindheit hatten, vorbereitet. Er schreibt im Buch «Der beste Job der Welt» von seinem Leben. Livenet publiziert seine Geschichte mit freundlicher Genehmigung des Neufeld Verlags.
Es war ein ständiger Zerriss, eine Kindheit in Extremen: Da war meine Mutter, eine tiefgläubige Frau, geprüft vom Leben: Ihr erstes Kind, geboren mit einem unheilbaren Herzfehler, liebevoll gepflegt, bis es nach neun Monaten in ihren Armen sterben durfte. Und da war mein Vater, gezeichnet von dieser Erfahrung, enttäuscht vom Glauben, der ihn nicht hielt. Nach diesen Erlebnissen war er irgendwie im freien Fall, meistens gleichgültig uns gegenüber, dafür hingebungsvoll seinen Kumpels und dem Alkohol ergeben.Wie in allen Familien mit einem alkoholabhängigen Elternteil wurde bei uns viel gelitten, meist still. Mein Bruder und ich haben uns verdrückt, wenn es heikel wurde; meine Schwester hat rebelliert. Hart war es für alle drei. Ich habe viel geweint, abends im Bett, wenn es niemand mitbekommen hat. Auf keinen Fall wollte ich meine Mutter mit meiner Verzweiflung zusätzlich belasten. Ich habe gebetet und gebettelt, um Veränderung gefleht. Gott kann doch das: meinen Vater verändern. Geschehen ist nichts, das Wunder blieb aus. Bis zu seinem Ende.
Der Glaube war nie einfach selbstverständlich, aber Glauben war immer eine existenzielle Sache: Ich bekam es ja mit, tagtäglich: Der Glaube hat meine Mutter durch den endlosen Kampf hindurchgetragen. Doch mit ihr über ihren Glauben zu reden, das war in dieser Zeit, in der alles so schwierig war und immer wieder neue Wunden aufgerissen wurden, nur sehr selten möglich. Wichtig war ein Ehepaar aus unserer EMK-Gemeinde. Bei ihnen lernte ich darüber zu reden und kritisch zu reflektieren. Auch den Glauben. In stundenlangen Gesprächen lernte ich, einverstanden zu werden mit Gott und seinem Weg für mich. Ich lernte, dass Nachfolge in manchen Leben in einer beklemmenden Nähe zum Leidensweg Jesu werden kann. Ich begriff, dass auch Jesus mit seinem Weg zu ringen hatte.
In dieser Zeit wurde mir bewusst, dass das unscheinbare Wort «trotzdem» treffender die Haltung Jesu zusammenfasst als manch langatmige theologische Ausführung: «Und trotzdem folge ich dir nach, trotz allem Schmerz, trotz allen unbeantworteten Fragen bleibe ich bei dir und trotzdem will ich für dein Reich verfügbar sein.» Für diese Haltung, die mich heute noch prägt, wurde damals das Fundament gelegt. Ich bin tief dankbar, dass mir Gott in dieser so krisenhaften Jugendzeit derart verständnisvolle und differenziert glaubende Menschen zur Seite gestellt hat.
Gott hat meinen Vater nicht geheilt. Aber ich habe mehr und mehr begriffen, dass er mit Jesus bei mir war, mitten in meinem Leiden trug er mit, weinte mit, hielt mit mir aus, was ich als schier unaushaltbar empfand. Und das war eine alles entscheidende Erfahrung: Ich wusste nicht einfach, nein, ich habe es erfahren: Am Kreuz teilt Jesus jeden einzelnen Schmerz mit mir, weint jede Träne mit. Und wie Jesus überwand, so würde auch ich überwinden.
Daran hielt ich fest. Stur und gegen alle Enttäuschungen. Und es war so. Nicht, weil es ein Happy End gab – das blieb ja eben gerade aus – nein, es war so, weil ich tatsächlich mit meiner Geschichte einverstanden wurde und Frieden in all dem Unfrieden erleben durfte. Diese Erfahrung wollte ich mit anderen teilen. Ich wusste, ich war nicht der einzige, dem dieses so unverfügbare Leben nicht richtig gelang. Mit all diesen Menschen wollte ich meine Erfahrung vom mitleidenden Jesus teilen. Darum entschied ich mich, Theologie zu studieren. Es war eine Berufung aus einer Erfahrung und ich wusste, dass mein Platz an der Seite von Menschen sein würde, die leiden. Lange leiden, an sich, an ihrer Geschichte und an Umständen, die sie so wenig gewählt haben, wie ich meinen Vater ausgewählt habe.
Während des Studiums wurde mein Glaube auf die Probe gestellt. Doch es war nicht die liberale Theologie – vor der mich besorgte Glaubensgeschwister eindringlich gewarnt hatten –, die mich verwirrt hätte: Was mir zu schaffen machte, war die Irrelevanz des Evangeliums in unserer Realität rund um unsere Kirchgemeinde, mitten im Sex- und Drogenmilieu der Stadt Zürich. Wie konnte die gute Nachricht für die Alkoholiker, die sich am Abluftschacht des Kirchenaufgangs wärmten, so relevant werden, dass sich ihr Leiden wenden würde?
Einige Junge in der Gemeinde liessen sich von der Unruhe ob der Kluft zwischen Sonntagsgemeinde und Alltagsleiden der Menschen anstecken. Gemeinsam wagten wir es und luden diese uns so fremden Menschen zum Essen ein. Wie auch heute noch gab es jeden Freitag Spaghetti, bald für hundert Personen: Alkoholiker, Gestrandete, Enttäuschte, Ausgesteuerte, Verlorene, Hochstapler, Depressive, Einsame. Und schon bald auch für die Jungs. Ausländer, ausnahmslos, wild, frech, fordernd. Was war das für eine Herausforderung! Jede und jeder so ganz anders als wir.
Aber wir lernten sie kennen, ihre Geschichten, ihre Nöte, ihren Schmerz. Ich las Bonhoeffer: Wahres Christentum hiesse, den Schmerz des andern zu teilen. Diese Definition war wie eine Offenbarung, und sie liess mich nicht mehr los. Diese Worte leiteten mich in jeder einzelnen Begegnung. Es wurde mir zum grossen Anliegen, mit meiner Anteilnahme, noch mehr mit meiner ganzen Person das Evangelium in ihre Leben hineinzutragen. Das bedeutet zuerst und vor allem anderen, ihr Leben zu teilen. Ich forderte andere Christen heraus, das gleiche zu tun, und so zogen immer mehr ins Quartier und in die Wohnungen oberhalb des Kirchensaals. Als Lebensgemeinschaft hatten wir ein Ziel: unsere Zeit, unsere Begabungen, unsere Liebe zu Jesus mit den Menschen um uns herum zu teilen.
Rückblickend war es verblüffend einfach: Wir öffneten einfach unsere Türen für die herumlungernden Jugendlichen. Halfen beim Aufgabenmachen, verbrachten unsere Sonntage mit ihnen und oft auch die Feierabende. Wir veranstalteten Rap-Battles und verwandelten sie in eine Art Gottesdienst. Es war laut, es war chaotisch, aber es war so unglaublich nah an diesem so verwundbaren Leben. Vertrauen wächst langsam. Irgendwann wurden wir in ihre Familien eingeladen, und wir erlebten wunderbare Gastfreundschaft. Und noch mehr Schmerz, den wir mit ihnen aushalten wollten. Immer wieder durften wir handfest helfen, und wir konnten für unsere Freunde und ihre Anliegen beten.
Mit der Zeit entstanden Angebote für die verschiedenen Altersgruppen. Hunderte Kinder und Jugendliche nahmen über die Jahre an unseren Aktivitäten teil. Einige der Jungs entdeckten Jesus und begannen, mit ihm zu leben. Ihre Beziehung zu ihm ähnelte dabei ihrem zwischenmenschlichen Verhalten: Es war emotional, ein ständiges Auf und Ab, sie machten enttäuscht Schluss mit ihrem Herrn und versöhnten sich ebenso selbstverständlich wieder. In unzähligen seelsorgerischen Begleitungen wurde mir bewusst: Heiligung ist der Schlüssel zur Reifung im Glauben. Dutzendfach hat es sich bestätigt: Heiligung verstanden als Konstanz und Wachstum beruht auf vier Standbeinen: die persönliche Gebetsbeziehung zu Christus, das regelmässige Lesen des Wortes Gottes, die Inanspruchnahme der christlichen Gemeinschaft und die Bereitschaft zu einer verbindlichen Rechenschaftsbeziehung. Fällt eines dieser Standbeine weg, taumelt der Glaube, werden zwei Elemente aufgegeben, ist der Zusammenbruch so gut wie unvermeidbar.
Seit zwölf Jahren leite ich die reformierte Jugendkirche «streetchurch». Mein Team und ich begleiten junge Menschen in ihrem – wie Karl Barth so treffend formuliert – endlos variierten Versuch, glücklich zu werden. Wir lassen uns dabei von der Einsicht leiten, dass ein gelingendes Leben weder verfügbar ist noch verordnet werden kann; schon gar nicht jungen Menschen. Weitaus die meisten von ihnen, die an unseren geistlichen und sozial-diakonischen Angeboten teilnehmen, haben in ihrem Leben noch kaum je einen Kontakt zur Kirche gehabt, allermeist sind es religiöse Analphabeten, egal, aus welchem Kulturkreis sie kommen.
Eines der grössten Defizite, das sie fast ausnahmslos miteinander teilen, ist fehlende Aufmerksamkeit durch die nächsten Bezugspersonen. Dies führt zu einem tiefverwurzelten Misstrauen gegenüber der Welt der Erwachsenen. Oft ist es unser uneingeschränktes Interesse an ihrem Leben, das sie erstaunt und gleichzeitig für eine vertiefte Begleitung und einen Vertrauensaufbau öffnet. Solche Beziehungsarbeit braucht Zeit und ist kräftezehrend. Doch auf genau diesen gemeinsamen Wegen fliessen unser eigener Glaube und unser Umgang mit schwierigen Lebenssituationen wie selbstverständlich in die Gespräche ein. Immer wieder bin ich bewegt, erleben zu dürfen, wie Teilnehmerinnen und Teilnehmer für sich beten lassen, weil sie erkennen, dass uns unsere Christusbeziehung trägt und dies für sie glaubwürdig ist.
Oft beginnt eine Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben mit den altbekannten Theodizeefragen: «Wo war denn Gott, als ich ihn am dringendsten brauchte? Warum hat er all das Leid in meinem Leben zugelassen?» Es sind dies die Momente, in denen mir klar wird, warum ich in meiner eigenen Biografie dieselbe «Gottverlassenheit» erleben musste: Theoretisch, dogmatisch korrekte Antworten sind in solchen Situationen wenig hilfreich, was dagegen weiterhilft, ist das schlichte Anteilgeben am eigenen Erleben: «Wo war Gott, als der Alkohol meinen Vater und unsere Familie zerstörte? Er war am Kreuz und hat meinen Schmerz mit mir geteilt.» Diesen ohnmächtigen Gott als dem eigenen Leiden so nah zu erkennen, ist oft der Anfang einer zaghaften Auseinandersetzung mit oder gar Annäherung an Jesus Christus und vielleicht der Beginn einer eigenen Christusbeziehung.
Mir war und ist von zentraler Bedeutung, jungen Menschen aufzuzeigen, dass unser eigenes Leiden und Scheitern Jesus auf seinem Weg ans Kreuz vorweggenommen hat. Oder andersrum: Der Lebensweg eines jeden einzelnen Menschen ist in letzter Konsequenz ein Weg ans Kreuz, ein Weg des Scheiterns und des Sterbens. Aber – und das ist der alles entscheidende Punkt, der die Sicht auf den eigenen Leidensweg komplett verändern kann – ich bin nicht allein auf diesem Weg; Jesus ist an meiner Seite. Und das ist genug. Solo Dios basta. Die schwer zu fassende Wahrheit hinter diesen Worten Theresas von Avila haben mir in den zurückliegenden Jahren verschiedene leidgeprüfte Menschen bewegend vor Augen geführt.
Was mich fasziniert an diesem Beruf?
Ja, ich sehne mich danach, noch viel öfter erleben zu dürfen, wie gebrochene junge Menschen nicht nur Heilung erfahren, sondern ihren Lebensvollzug in der Hingabe an Jesus heiligen und in ihrem Denken, Reden und Handeln das verborgene Wirken Jesu in ihnen offenbar werden darf. Aber all das ist nicht verfügbar; der Geist weht, wo er will. Was ich aber tun kann, das will ich tun: In jeder einzelnen Begegnung will ich damit rechnen, dass Menschen dem auferstandenen Christus begegnen und ihre Leben in das Geheimnis seiner Gegenwart hineingezogen werden. Und ich lebe für die Vision, dass immer mehr Christen den Ruf Jesu hören, mit den Benachteiligten und Mühseligen ihre Zeit zu verbringen, ihnen zu dienen, sie grenzenlos zu lieben, sie zu tragen und zu ertragen. Ich kenne keinen anderen Grund, für den es sich zu leben lohnen würde, und nur in diesem Lebensvollzug können wir unserem Meister ähnlicher werden.
Jesus sagt: «Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren, wer aber sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, wird es retten» (Markus, Kapitel 8, Vers 35).
Der Beruf als Pastor oder Pfarrer ist im doppelten Sinn Aufgabe. Er ist Beauftragung, ohne die alles Tun und Reden eine menschliche Angelegenheit bleibt. Der Beruf ist darüber hinaus auch Aufgabe im Sinn des «Sich-Aufgebens» und so eigentliche Hingabe. In der Hingabe darf ich mich mit meinen Ambitionen bewusst aufgeben, und ich darf loslassen: meine eigenen Vorstellungen von einer erfolgreichen Mission, den Massen, die einem doch folgen sollten, das verdeckte Schielen nach Anerkennung für den geleisteten Einsatz. Wer sich so «verliert», der ist befreit vom Drang oder Zwang, ständig von den Umgebenden bestätigt zu werden und so freigesetzt, mehr und mehr Jesus imitieren zu dürfen. Genau dies ist das Privileg des Pastors und Pfarrers, nämlich sich ganz und gar der Herausforderung widmen zu dürfen, die Thomas von Kempen so zusammenfasst: «Wer die Lehre Christi in ihrer Fülle kennen lernen und schmecken will, der muss mit allem Ernste danach streben, dass sein ganzes Leben ein zweites Leben Jesu werde.» Unsere Gemeinden, nein, die Welt, braucht nichts mehr als Gemeindeleiter, die mit ganzer Hingabe Jesus imitieren und aus dieser Haltung und Erfahrung heraus seine Kirche bauen.
Hervorhebungen wurden durch die Redaktion von Livenet gemacht.
Zur Webseite:
Streetchurch
Zum Buch:
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