Spirituelle Offenheit ja, Glauben ja – aber auf Distanz zur Kirche, ohne innere Verbindung zur religiösen Institution: Auf diese Haltung sind Millionen Schweizer in den letzten Jahrzehnten eingeschwenkt. Das Leiterforum der Schweizerischen Evangelischen Allianz SEA hat erörtert, wie Kirchen mit jenen Menschen umgehen können, die zu ihnen auf Distanz gegangen sind.
Das Band (wieder) knüpfen: Olivier Favre, Benedikt Walker (VBG) und SEA-Generalsekretär Matthias Spiess am Leiterforum (von links).
Distanziert religiös ist nach einer Nationalfondsstudie 2011 die Mehrheit der Schweizer. Man kann sich dies leisten in der Wohlstandsgesellschaft mit intaktem sozialem Netz. Als Referent des diesjährigen Leiterforums von SEA und Freikirchenverband VFG am 5. Dezember in Oberägeri verband Olivier Favre soziologische Analyse mit Hinweisen für die Gemeindearbeit. Favre hat in seiner Doktorarbeit (2006) die Schweizer Freikirchenszene unter die religionssoziologische Lupe genommen. Als Pastor der Pfingstgemeinde Centre de Vie in Neuenburg zieht er Schlüsse aus den sozialwissenschaftlichen Studien.
Im Gang der Generationen nimmt die religiöse Praxis in der Schweiz insgesamt ab. Die Freikirchen haben zwar immer noch die Mehrheit ihrer Mitglieder in den Gottesdiensten (landesweit an einem normalen Sonntag doppelt so viele Besucher wie die Reformierten!). Doch die Zahl derer, die sich verabschieden und ihren Glauben individuell, familiär und/oder in losen Gruppen leben wollen, wächst auch in Freikirchen dramatisch.
Kein Patentrezept
Was tun? Die in Oberägeri anwesenden Leiter von Freikirchen, Werken und Ausbildungsstätten fanden kein Patentrezept. Mit ‚geistlichen Überfliegern‘, die sich übermütig absetzten, ist anders umzugehen als mit Christen, die sich zurückziehen, nachdem sie verletzt oder demotiviert worden sind. Einige Antworten: Christen sollen das persönliche Gespräch suchen, eventuell Kleinstgruppen bilden, «Häuser und Kühlschränke öffnen» und «Nachbarn zum Glühwein einladen».
Verantwortliche sollten kritische Wahrnehmungen ernst nehmen, aber auch mit Vision und partizipativ führen. Weiter können durch angepasste Gottesdienstzeiten und einladende Räumlichkeiten die Zugangsschwellen zur Gemeinde gesenkt werden. Den Distanzierten kann man darlegen, dass sie eine Gemeinschaft brauchen, die sie vor ihrer eigenen Einseitigkeit schützt. Und: Der Kontakt soll bei einem Ausstieg nicht abbrechen – bei grösseren Problemen oder in einer Lebenskrise sind Freunde wichtig.
Neue und alte Werte
Olivier Favre wies am SEA-Leiterforum darauf hin, dass vielen Schweizern der Glaube heute durch Erfahrungen entgegenkommt, «als müsste der Mensch heute etwas empfinden und erfahren, bevor er glaubt. Die Wahrheit wird nicht mehr erschlossen über den Intellekt, sondern über eine Erfahrung.» Die Kirche soll, so Favre, in der Verkündigung die Menschen aufgrund ihrer Bedürfnisse ansprechen und Bezug nehmen auf zeitgeistige spätmoderne Werte (z.B. Authentizität, Vielfalt). Und damit verbunden die christliche Botschaft ohne Abstriche verkündigen. Favre riet, in der Gemeindearbeit alte Zöpfe abzuschneiden. Traditionelle Werte sollten dabei nicht verleugnet, sondern später integriert werden, etwa in Glaubenskursen.
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