Hilft uns der Begriff «missional», missionarische Klischees zu überwinden?
Vor einigen Jahren nahm ich an einer Podiumsdiskussion teil. Ich stellte mich der Person neben mir als Vertreter täuferischer Kirchen vor und erhielt zur Antwort: «Oh ja, die Täufer sind mir sympathisch, die sind nicht so missionarisch.» Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Wenn die Person sagen wollte, dass man in täuferischen Gemeinden gewisse Muster missionarischer Praxis nicht antreffen würde – Muster, die noch zu sehr an die Mission der Kolonialepoche erinnern –, dann könnte die Aussage ja als Kompliment aufgefasst werden. Wenn sie aber sagen will, dass die christliche Kirche grundsätzlich nicht missionarisch sein solle, da dies in einer offenen, pluralistischen und toleranten Welt einfach nicht mehr Platz habe, dann müsste ich widersprechen.
Auf jeden Fall wurde klar, dass die Worte «Mission» und «missionarisch» missverständlich sind und oft negative und falsche Assoziationen hervorrufen. Währenddem das Wort «Mission» also gewissermassen zum Unwort geworden ist, blüht ein neuer Begriff auf: «missional». Man könnte fast sagen: Mission ist tot – es lebe missional. Aber ist das lediglich ein Etikettenwechsel oder ist mehr dahinter?
Die englische Vokabel «missional» kann bis ins späte 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden. Sie wurde jedoch selten verwendet und war ein anderer Ausdruck für «missionarisch». In den 1980er Jahren begann der Begriff allerdings mit einer ganz bestimmten, neuen Füllung aufzutauchen und wurde in den 1990er Jahren definitiv zu einem neuen Fachausdruck. Mit «missional» wurde und wird ein «neues» Missionsverständnis bezeichnet, welches sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch den Paradigmenwechsel in der Weltmission und im Missionsdenken entwickelt hat.
Um das zu verstehen, ist ein kurzer Rückblick auf das «alte» Missionsverständnis nötig, das Missionsverständnis, das vor 100 Jahren in Kraft war und teilweise bis heute wirksam ist.
Das «alte» Missionsparadigma
Dieses Missionsverständnis ist von einem zweifachen historischen Erbe geprägt:
Das erste Erbe ist die Verbindung von Kirche und Staat und damit verbunden ein Missionsverständnis, welches Mission als territoriale Ausdehnung des Bereichs der Kirche verstand, nicht selten im Gleichschritt mit staatlicher Expansion. Dieses Erbe ist eng verbunden mit der Kolonialisierung vieler Territorien durch die Grossmächte Europas. Man spricht deshalb auch vom kolonialen Paradigma der Mission.
Das zweite Erbe ist der Individualismus der modernen, evangelikalen Missionsbewegung. Sie nahm ihren Anfang im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. Hier steht nicht mehr die territoriale Expansion westlicher Kirchen im Vordergrund, sondern einzelne Personen wissen sich als Missionare berufen. Sie werden von Missionsgesellschaften gesammelt, unterstützt und ausgesandt, um «dort», in den noch nicht christlichen Regionen, Individuen zu evangelisieren.
Die Folgen
Das Resultat, das sich aufgrund dieses Erbes zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigte und zum Teil noch heute wirksam ist, kann so skizziert werden:
Mission wird eng mit dem Westen und der westlichen Kirche assoziiert – mit der Kolonialzeit, mit der Expansion westlicher Kirchen, mit dem Verständnis, dass die westliche Kultur «christlich» und anderen Kulturen überlegen sei.
Für die Kirchen in Europa heisst das vor allem, dass Mission nicht «hier», sondern «dort» stattfindet. Mission gibt es dort, wo eine Kirche ihre Grenzen weiter ausdehnt, und das ist aus der Optik europäischer Kirchen in den noch nicht missionierten Gebieten der Welt – auf jeden Fall weit weg. Mission findet dort statt, wo «unsere» Missionare tätig sind, und das ist eben «dort», am Rand des sich ausbreitenden christlichen Territoriums.
Diese Konzeption von Mission führt natürlich dazu, dass Mission nicht zum Wesen von Kirchen und Gemeinden gehört, sondern zu einer von durchaus vielen Tätigkeiten.
Zudem wird der Vorstellung Vorschub geleistet, dass Mission delegierbar sei – an Spezialisten, das sind unsere Missionare und Spezialorganisationen, unsere Missionsgesellschaften. Das wiederum hat im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts zu bedenklichen Parallelstrukturen geführt – hier die Kirchen, dort die Missionsgesellschaften.
Die Rolle der Kirchen besteht dabei hauptsächlich darin, personelle und finanzielle Ressourcen für die Mission bereitzustellen.
Dies hatte natürlich erhebliche Auswirkungen auf die theologische Ausbildung.
Die Krise
Dieses Verständnis von Mission kann man als das traditionelle Paradigma bezeichnen. Bereits nach dem 1. Weltkrieg, aber dann definitiv nach dem 2. Weltkrieg ist dieses Missionsparadigma in eine grosse Krise geraten.
Die Idee, dass die christliche Kultur des Westens anderen Kulturen überlegen sei, dass das Heil von Europa und von Nordamerika her komme, ja überhaupt, dass das Heil vom Christentum her komme, wurde immer lauter in Frage gestellt. Die einstigen Kolonien erlangten nach und nach Unabhängigkeit. Die christlichen Kirchen und Missionen, die sich lange im Dunstkreis der Kolonialmächte bewegten, gerieten damit auch in Misskredit und wurden zusammen mit den Kolonialherren nach Hause geschickt.
Zudem wurde im «christlichen» Westen immer deutlicher, dass der christliche Glaube am Schwinden ist, ja dass der Westen vielleicht gar nie so christlich war, wie manchmal angenommen wurde.
Auf dem Weg zu einem neuen Missionsparadigma
Nach dem 1. Weltkrieg ist ein tiefgreifendes theologisches Umdenken zu beobachten, das für den Begriff «missional» Bedeutung hat. Ein neues Paradigma der Missionstheologie begann sich zu entwickeln.
Karl Barths Einfluss darf dabei nicht unterschätzt werden. Bereits 1932 stellt er die These auf, dass Mission eigentlich eine Tätigkeit Gottes sei. Wenn es um Mission gehe, dürfe nicht die Kirche im Zentrum stehen, sondern Gott – es sei nicht ekklesiozentrisch, sondern theozentrisch zu denken. Aus diesen Gedanken entwickelte sich der missionstheologische Begriff «Missio Dei» – Mission Gottes – der nach 1952 zu einem Schlüsselbegriff des neuen Missionsparadigmas wurde. Er macht klar, dass es bei der Mission weder um eine territoriale Ausdehnung der Kirche, noch um die Rettung individueller Seelen geht, sondern darum, dass Gottes Projekt, seine Mission, in der Welt Gestalt gewinnt. Die «Missio Dei» ist Gottes Bewegung zu den Menschen hin, wie sie in der Sendung von Jesus Christus, und insbesondere im Gedanken der Inkarnation zum Ausdruck kommt. Für Kirchen und Einzelpersonen heisst Mission deshalb: teilnehmen an dieser Mission Gottes; sich in Gottes Bewegung zu den Menschen hinein nehmen lassen. Dies bedeutet, das Wagnis einzugehen, sich am Wirken Gottes in dieser Welt zu beteiligen.
Die neue Sichtweise von Mission wurde nach dem 2. Weltkrieg durch einen Satz von Dietrich Bonhoeffer weiter zugespitzt, der aus den Fragmenten seiner Gefängnisbriefe an die Öffentlichkeit gelangte: «Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist». Damit wird aber auch klar, dass Mission nicht etwas ist, das die Kirche neben anderem auch noch tut, sondern dass die Teilnahme an der Mission Gottes Berufung und Wesensbestimmung der Kirche ist. Daraus ergibt sich, dass Mission nicht eine Tätigkeit an den geographischen Rändern eines christlichen Territoriums sein kann, sondern Identität und Wesensmerkmal von Kirche allezeit und überall.
Die Konsequenzen
Aus einem solchen Missionsverständnis ergibt sich nun eine ganze Reihe von Konsequenzen:
Alle zum alten Paradigma gehörenden Verbindungen der Kirche mit der politischen und ökonomischen Macht des Westens, mit kolonialen und neo-kolonialen Strukturen, mit Staat, Politik und militärischer Macht und mit dem Überheblichkeitsethos des Westens müssen überwunden werden.
Kirche und Mission müssen auch in der Praxis zusammengeführt werden, d.h. Kirchen und Missionsgesellschaften müssen die Parallelstrukturen überwinden.
Die Existenz lebendiger, sichtbarer und erfahrbarer christlicher Gemeinschaften, in denen sich die gute Nachricht (das Evangelium) durch Jesus-Nachfolge verkörpert, rückt ins Zentrum missionarischer Praxis.
Mission muss neu, ganzheitlich, d.h. den ganzen Menschen, die ganze Kirche und die ganze Welt umfassend, definiert werden.
Eine neue Missionssprache muss gefunden werden, denn die traditionelle Sprache ist so sehr mit alten Inhalten besetzt, dass eine klare Kommunikation fast nicht mehr möglich ist.
Und schliesslich: Die Kirche des Westens muss ihre missionarische Existenz in ihrem Kontext, in einer modernen, entchristlichten und postmodernen Kultur ganz neu entdecken.
Braucht es eine neue Sprache, um die neuen Inhalte auszusagen?
Im Umfeld der nordamerikanischen Bewegung «The Gospel and Our Culture Network» tauchte in den 1990er Jahren der Begriff «missional» in seiner neuen missionstheologischen Bedeutung erstmals auf. Den Vertretern dieses Netzwerkes wurde zunehmend klar, dass der herkömmliche Begriff «missionary» zu sehr mit dem alten Missionsdenken verknüpft war und einem tiefgreifenden Umdenken im Wege stehen würde. Eine missionarische Gemeinde blieb halt immer noch eine Gemeinde, die sich sehr engagiert im herkömmlichen Sinn missionarisch betätigt. Eine Neufüllung dieses Begriffs wollte nicht gelingen. Von der Einführung des Ausdrucks «missional» erhoffte man sich eine tatsächliche Neudefinierung des Missions- und Gemeinde-Verständnisses.
Später, wohl erst nach 2000, begann der neue Begriff auch im deutschen Sprachraum aufzutauchen. Er wurde und wird mehrheitlich von innovativen evangelikalen Bewegungen propagiert. Zum Beispiel in der Literatur von Alan Hirsch, Johannes Reimer und Tobias Faix – GBFE, Marburger Bibelseminar, IGW, Literatur im Neufeld-Verlag etc.
An die Adresse derjenigen, die in den letzten Jahren «missional» als trendigen Begriff übernommen haben, muss gesagt sein, dass es nicht reicht, eine neue Vokabel zu benutzen, um das alte Missionsparadigma zu überwinden. Der Weg zu einem Missions- und Gemeindeverständnis, das Abschied nimmt von der konstantinischen und kolonialen Sicht, ist lang und anspruchsvoll. Wir haben uns bestenfalls auf den Weg gemacht … das Ziel aber noch lange nicht erreicht. Nicht überall, wo «missional» draufsteht, ist auch missional drin!
Der Autor ist Dekan an der Akademie für Weltmission in Korntal/Stuttgart und Dozent am Theologischen Seminar Bienenberg in Liestal.
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