Wie kommunizieren Christen ihren Glauben in die Gesellschaft hinein? Über diese heisse Frage diskutierte Livenet-Chefredaktor Florian Wüthrich mit den Medienprofis Guiseppe Gracia, Sam Urech und Brigitte Frei im Livenet-Talk vom 1. Mai 2020.
Livenet-Talk mit Sam Urech, Brigitte Frei, Giuseppe Gracia und Florian Wüthrich (Bild: Livenet)
Ein Katholik und zwei Freikirchler: alle drei haben ihre Erfahrung und ihren eigenen Stil, den christlichen Glauben sprachfähig zu machen. Guiseppe Gracia als Schriftsteller, BLICK-Kolumnist und Medienbeauftragter des Bistums Chur, Brigitte Frei als engagierte Freikirchlerin und PR-Beraterin und Sam Urech, «Halleluja-Kolumnist» beim Nachrichtenportal Nau.ch.
«Lieber hässig als gleichgültig»
Sam Urech steigt aktuell ein: bei der Vorlage eines Artikels sagt ihm der Nau.ch-Chefredaktor «Da ist ein bisschen zu wenig Gott drin», worauf er den Text archiviert und spontan am Abend ein neues «Wort zum Freitag» schreibt: «Wissen Sie was? Sie werden geliebt!» Wow – eine Steilvorlage. Wie geht er mit den Kommentaren und Reaktionen (nachzulesen auf Nau.ch) um? Urech: «Die Leute können anonym reagieren, darum sind sie sehr ehrlich. Die Kommentare sind für mich selten ein Problem – ich bin froh, wenn die Botschaft etwas macht mit den Menschen. Lieber hässige Reaktionen als gleichgültige Leser.»
«Viele Christen sind zu nett»
Guiseppe Gracia
Guiseppe Gracia findet Sam Urech «erfrischend» und meint, viele Christen seien viel zu nett in ihrem Umgang mit der Öffentlichkeit. Er ortet einen «therapeutischen Ansatz»: Christen reden nur über «Sachen, die der Patient verträgt» und blenden gern die harten Fakten aus. Gracia: «Damit nehmen wir unser Gegenüber nicht ernst.» Fakt ist: «Jesus wurde deswegen umgebracht, weil er den Leuten sagte: du bist nicht dein Chef, dein Boss, sondern Gott ist der Herr. Das wollen Leute bis heute nicht hören.» Die Meinung des Medienmannes: «Wenn man ausweicht auf Nebenthemen oder Lebensthemen, dann kann man nett reden. Das stört niemanden. Aber dann verkündigt man auch nicht.»
Kampf um «Verbürgerlichung»
In der katholischen Kirche ortet Gracia einen «Geistlichen Kampf um Verbürgerlichung». Zentral seien nicht Themen wie Zölibat oder Frauenordination, sondern die tiefere Frage: «Darf es eine Instanz geben, die nicht wie die Welt tickt?» Es geht um etwas Wichtiges, das «Ausserirdische» der Kirche. «Nicht von der Welt» bedeute, dass Christen zwar Mitglieder, aber nicht ein Produkt der Gesellschaft sind. «Und wenn die Leute auf die Kirche schiessen, dann reiben sie sich an einer Institution, obwohl sie selbst nie in die Kirche gehen», so Gracia.
«Das eigene fromme Geschwurbel»
Brigitte Frei ist Mitglied der BewegungPlus («meine Gemeinde heisst wie ein Turnverein»). Sie fühlt sich vor allem am Sonntagmorgen wie eine «Ausserirdische», wenn sie «morgens um 8 Uhr die Autotür nur ganz leise zumacht und durch den Schnee stapft, um sich im Gottesdienst zu engagieren». Ihre Kritik ist auf die Innenschau und die Schwerfälligkeit der Freikirchen gerichtet: «Wir hätten gerade jetzt durch die Medien so eine breite Zielgruppe und sinken immer wieder in unser frommes Geschwurbel hinab», findet sie. Und statt mit offenen Armen für die Gesellschaft da zu sein, «muss man das erst mit dem Seelsorgeteam absprechen». Durch fehlenden Mut und eine gewisse Schwerfälligkeit würden im Moment viele Chancen vertan.
«Ausserirdische»?
Sam Urech (Bild: zVg)
Mit diesem – von Gracia geprägten – Reizwort ist Sam Urech nicht ganz einverstanden: «Das kann uns schnell das nötige Selbstvertrauen rauben.» Für ihn ist die christliche Botschaft so gewaltig und «normal», dass er eher die anderen als «Ausserirdische» sieht. Urech: «Wir reden nicht von oben herab, aber wir dürfen stolz sein auf das, was wir sind». Darum schreibt er auch als «Halleluja»-Kolumnist in einem säkulären Organ und bekennt sich ohne Probleme als «Freikirchler».
Dem Selbstbewusstsein Urechs gibt Guiseppe Gracia dann ein historisches Fundament: «Wenn man Jesus wegnimmt, findet man im Mist der Geschichte keine Grundlage für Menschenrechte» meint er. «Ohne Christentum wäre man auf die Idee der Gleichheit aller Menschen nie gekommen. Das ist in anderen Kulturen gar nicht denkbar.» Seine Prognose: «Wenn das Christentum verschwinden sollte, verschwinden auch die Menschenrechte.»
Nicht auf Randthemen festnageln lassen
Jeder Mensch habe schon Erfahrungen mit dem Transzendenten gemacht, so Gracia. «Da muss man anknüpfen», meint er und kritisiert: «Aber auf die nötige Grundsatzebene kommen wir kaum – wir sind ständig mit Sekundär- und Tertiärthemen beschäftigt und walzen die aus.» Hier hakt Brigitte Frei ein: «Es braucht den Biss, eine Diskussion mal abzuklemmen und zu sagen 'darüber diskutier ich jetzt nicht mehr'.» Auch ihr ist es wichtig, zwischen zentralen und Seitenthemen zu unterscheiden: «Wir haben eine Meinung zu bestimmten Randthemen, aber wir lassen uns nicht dauernd auf sie festnageln, so dass das Kernevangelium zu kurz kommt.»
Werden Menschen durch Corona offener oder nicht?
Brigitte Frei
Die drei Medienleute erleben sich und ihre Mitmenschen in der Corona-Zeit durchaus verschieden. Brigitte Frei findet, dass sie mutiger ist: «Tätsch … wenn's wackelt und rumpelt, habe ich einen festen Anker.» Sie leidet darunter, dass auch zu Corona-Zeiten Christen in ihrer eigenen Seifenblase stecken und die Chancen unserer Zeit zu wenig nutzen.
Sam Urech erlebt, dass Gespräche eher in die Tiefe gehen: «Corona bringt Menschen zum Nachdenken, sie sind weniger abgelenkt. Ältere Leute müssen über den Tod nachdenken.» Persönlich ist er wirtschaftlich und menschlich herausgefordert. «Ich kann mich nicht so ablenken, es gibt keinen Fussball am Wochenende. Das alles ist sehr positiv, ich muss mehr nachdenken», findet er.
Kuschen die Menschen zu schnell?
Guiseppe Gracia schliesslich hat die ersten Wochen genossen, er sei ruhiger geworden. Seine Kritik: die Medienmaschine habe extrem viel Angst verbreitet und «die Kirchen wurden am Anfang bei all den Massnahmen vergessen». Gracia: «Da wo die Leute demütig sind, vor Gott, sind sie hochmütig. Aber vor dem Staat sind sie demütig und gehorsam, und kritische Fragen kommen kaum hoch.» Seine Kritik: «Die Regierung ist für viele die höchste Instanz. Eigentlich sollte die Religion die kritische Gegeninstanz zur Regierung sein. Schon Jesus hat zwischen Kaiser und Gott klar getrennt. Der Kaiser geht mal vorbei. Gott bleibt.»
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