Das
Thema ist unsichtbar und trotzdem allgegenwärtig. Dass sexuelle Gewalt auch in
christlichen Kreisen vorkommt, bestätigt sich in der Beratungstätigkeit von
Dagmar C. Müller. Da gebe es noch viel Handlungsbedarf und
Sensibilisierungsarbeit.
Die Zahlen sind erschreckend. Im Schatten unserer
Gesellschaft gibt es unzählige Fälle sexueller Gewalt – viele davon bleiben im
Dunkeln. Opfer leiden, während die Täter, gefangen in ihren Leidenschaften, nie
zur Rede gestellt werden und keine Verantwortung für ihr Verhalten übernehmen
müssen. Wer denkt, dies sei in christlichen Kreisen kein Problem, irrt
gewaltig. Sexuelle Übergriffe kommen auch inmitten von Gemeindemitgliedschaft,
Glaubensbekenntnissen und christlichen Aktivitäten vor.
Täter und Opfer können einen guten Eindruck
hinterlassen
2004 machte Dagmar C. Müller (55)
in den USA einen Bachelor in Beratung. Die Tatsache, dass sich viele
Hilfesuchende aufgrund erfahrener sexueller Gewalt an sie wandten, betrachtet
sie als Gottes Fügung und machte eine entsprechende Zusatzausbildung
(Fachberatung Trauma).
Seit 2007 betreibt Dagmar eine Praxis in Lengnau (AG), Liestal
und Rotkreuz. «Beim Thema der sexuellen Gewalt habe ich vor allem mit Jugendlichen
aus christlichen Kreisen zu tun.» Und sie weiss, dass viele Betroffene nie den
Weg in eine Beratung finden. Von den leidvollen Geschichten ist sie immer
wieder aufs Neue betroffen – schockiert aber schon lange nicht mehr. «Da sowohl
Täter als auch Opfer oft einen guten Eindruck hinterlassen, ahnen viele Kirchengänger
nicht, was in ihren Reihen abgeht.»
Es geht darum, Betroffene zu unterstützen
«Immer wieder werde ich gefragt, wie ich trotz
allem noch zur Kirche gehen kann.» Die tragischen Geschichten konnten Dagmars
Glaube an Gott aber nicht erschüttern. «Dass ich heute von Begabungen und gutem
Auftreten weniger beeindruckt bin, hat sicher mit meiner Tätigkeit zu tun. Ich achte
heute mehr auf Charakter und Gottes Wirken am Menschen.»
Ihre Aufgabe sieht sie nicht darin, Kirchen und
deren Mitglieder zu verurteilen, sondern Menschen, die Leid erfahren haben, zur
Seite zu stehen. «In Kirchen gibt es oft wenig Bereitschaft, das Leid eines Menschen
mitzutragen und sich emotional reinzugeben.» Genau dies brauchen Betroffene
von sexueller Gewalt: Jemand, der auf ihrer Seite ist, der ihnen mit Empathie,
Wohlwollen und Unterstützung begegnet, statt mit Mitleid, Forderungen oder Überforderung.
Dagmar wünscht sich von den Gemeinden eine offenere und authentischere
Gesprächskultur über das Leiden.
Betroffene können in einer von Dagmar geführten
Selbsthilfegruppe einen Weg aus Ohnmacht, Schmerz und Hilflosigkeit erarbeiten.
Das Buch mit Arbeitsbuch «Das verwundete Herz» ist dabei eine gute und
hilfreiche Unterstützung.
Ein Trauma steckt man nicht einfach weg
Viele, die sexuelle Gewalt erfahren haben, finden
in christlichen Gemeinden keinen Raum, um über ihr Leid zu sprechen. «Ein
Trauma kann nicht wie ein Hindernis überwunden werden. Man muss es
verarbeiten.» Betroffenen hören von Christen oft, dass ihr Weg der Wiederherstellung
hauptsächlich aus Vergeben und dem Proklamieren von Bibelversen besteht. Betroffenen
führt dies erneut in das Gefühl von «Ich versage wieder, ich genüge einfach
nicht» hinein. «Das funktioniert nicht. Die Opfer werden nur enttäuscht sein,
wenn sie dann nicht darüber hinwegkommen.»
Sexuelle Gewalt geschieht nicht nur auf
körperlicher, sondern auch auf seelisch/emotionaler und geistlicher Ebene. Wer
sexuelle Gewalt erfährt, wird der persönlichen Würde beraubt, was Scham, Minderwertigkeitsgefühle,
Wut und Hilflosigkeit nach sich zieht. «Das muss ganzheitlich aufgearbeitet
werden.»
Dagmar erlebt im Heilungsprozess immer wieder Gottes Hilfe. «Die
meisten meiner Klienten und Klientinnen wollen den Glauben in diesem Prozess
einbeziehen.» Nach fünfzehn Jahren Beratungstätigkeit vergleicht Dagmar den Wiederherstellungsprozess
mit der Tätigkeit ihres früheren Berufs: «Als Hebamme begleitete ich Frauen
während der Geburt. Genauso begleite ich heute Betroffene von sexueller
Gewalt.» Sie geht mit ihnen den Weg zu Würde, Selbstachtung, Mut, Respekt und
Lebensfreude – und dabei gibt es keine Abkürzung.
Die Reaktion der Kirchen bleibt meist
oberflächlich
«In den vergangenen Jahren wurden viele Kirchen
sensibilisiert und machten Konzepte, damit innerhalb des Gemeindelebens keine
Übergriffe passieren können.» Das genüge aber nicht. Dagmar sagt: «Wenn jemand
kommt und von sexuellem Missbrauch berichtet, gibt es meist nur Überforderung
und Hilflosigkeit.» Wenn sich eine Person öffnet und von erlebter sexuelle
Gewalt berichtet, ob innerhalb oder ausserhalb der Kirchen, ist oft niemand da,
der hilft. «Viele Kirchen haben einen Plan, um sich rechtlich zu schützen.»
Dagmar
vermisst es aber, dass Kirchen ein Konzept für die Wiederherstellung
Betroffener haben, wenn der Missbrauch innerhalb der eigenen vier Wände
passiert. «Es gibt auch kaum Sensibilisierung, um Übergriffe zu erkennen und
den Betroffenen Unterstützung zu bieten.» Dagmar ist überzeugt, dass die
Thematik normalerweise nicht zu Ende gedacht werden will. «Vieles wird einfach
verdrängt.» Und so bleiben die Opfer von sexueller Gewalt unbeachtet. Und dies,
obwohl sowohl Täter wie auch Opfer in den eigenen Reihen sitzen.
Noch viel Arbeit vor uns
Nach den Erfahrungsberichten zahlreicher
Betroffenen ist für Dagmar klar: «Die Kirchen haben noch viel Arbeit vor sich.»
Aufgrund fehlender Fachkompetenzen sind die meisten Gemeindeleiter, Pfarrer und
Pastoren oder Seelsorger mit dem Thema überfordert. Dagmar ist es aber wichtig,
dass der Leib Christi noch viel mehr von Gott gebraucht werden kann, als Ort
der Hoffnung und Wiederherstellung, deshalb bietet sie Weiterbildung an zum
Thema «Sensibilisierung und Wiederherstellung nach sexueller Gewalt/Missbrauch».
Bei rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit
sexuellem Missbrauch empfiehlt Dagmar C. Müller die Opferhilfe
Castagna.
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