Die christliche Kirche tut sich im Abendland schwer. Besonders bei den Intellektuellen. Doch jetzt gibt ein Philosoph kräftig Gegensteuer und sagt cool: Wer an Gott glaubt, verabschiedet sich von billigen Menschenrettungsfantasien.
«Selten war ich derart
überrascht über einen Beitrag in der Zeitung 'Blick'», schreibt Markus Baumgartner in der Einleitung zu seinem aktuellen «dienstagsmail»-Newsletter. Und weiter schreibt der Kommunikationsberater: «Da hat es ein
Kolumnist geschafft, das vielleicht wichtigste Thema der
Menschheitsgeschichte, das tabuisierteste Thema der Gegenwart in der
Schweiz, auf einfachste und geerdete Weise zur Geltung zu bringen.»
Die
Kolumne stammt von René Scheu. Er ist promovierter Philosoph und
Buchautor, leitete von 2016 bis 2021 das Feuilleton der Neuen Zürcher
Zeitung (NZZ) und ist heute Geschäftsführer des Instituts für Schweizer
Wirtschaftspolitik (IWP) an der Universität Luzern.
Wäre ich ein guter Pfarrer geworden?
Gerne geben wir hier seine Kolumne im «Blick» im
Wortlaut weiter: «Wäre ich ein guter Pfarrer geworden? Ich weiss es
nicht. Als kleiner Bub war mein Traum: Kirche mit angrenzendem
Fussballplatz. Beide Träume sind aus Altersgründen ausgeträumt, sowohl
jener vom Gottesmann als auch jener vom Fussballprofi. Immerhin
attestieren mir manche Kritiker Predigerqualitäten.
Wäre
ich also tatsächlich Pfarrer geworden, würde ich zu Weihnachten 2022
diese Predigt halten: Gott ist der grosse Buhmann. Und all jene, die
trotzdem an ihn glauben, gelten in wohlwissenden Kreisen als
Hinterwäldler. Den armen Seelen soll es an kühlem Verstand fehlen. Sie
klammern sich
verzweifelt an eine Illusion, um Halt im Leben zu finden. Ohne die
Gotteseinbildung würden sie zugrunde gehen. Falsch! Denn schauen wir
nach draussen oder auf einen Bildschirm, stossen wir auf eine grosse
Durcheinanderwelt. Das Chaos wächst täglich. Wie passt das zur
göttlichen Ordnung? Wer in seinem Leben trotzdem unerschrocken an einen
allgütigen und allmächtigen Schöpfer glaubt, muss krasse intellektuelle
Kapriolen vollbringen.
Ein Leben mit Gott in der Durcheinanderwelt ist mehr als anstrengend – das Gegenteil von Halt.
Erlöst und befreit
Aber
vor allem: Wer trotz allem an Gott glaubt, bleibt demütig. Er versteht
das grosse Ganze nicht, und er gesteht sich dies cool ein. Er
verabschiedet sich von billigen Menschenrettungsfantasien und
Machbarkeitsglaubenssätzen. Denn er vertraut darauf, dass er – in alter
Terminologie – erlöst ist, also von allem Schlechten befreit wird und
das ewige Leben hat. Auch hier ist der Gläubige im Kern Realist: Der
Mensch, dieses merkwürdige Geschöpf, kann sich selbst nicht erlösen,
dafür braucht es ein höheres Wesen.
Anders die Gottesverächter aller Richtungen.
Ohne dass sie es bemerken, erfinden sie am laufenden Band
Ersatzreligionen und beten immer neue Götzen an, zurzeit besonders in
Mode: Klima, Ernährung, Diversity. Wer CO2-neutral lebt,
richtig isst, denkt und spricht, darf gewiss sein: Er hat sich selbst
erlöst, schon zu Lebzeiten, schon auf dieser Welt, ganz aus eigener
Kraft. Er ist rein, er ist gut, er ist gerechtfertigt.
Wer ist aufgeklärter?
Hier
könnte die Predigt langsam zu ihrem Ende kommen. Allerdings bin ich ja
kein Pfarrer geworden. Als nüchterner Philosoph frage ich mich – wer ist
denn hier nun aufgeklärter? Die Gottesgläubigen, die demütig an sich
arbeiten und die Hoffnung
bewahren, dass es am Ende trotz allem gut kommt (oder jedenfalls besser
als erwartet)? Oder die selbstgerechten Selbsterlöser, die auf alle
herabblicken, die nicht wie sie überzeugt sind, dass die Welt ohne sie
zugrunde geht?»
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