«Tote Mädchen lügen nicht» ist der Titel einer
US-Fernsehserie. Sie dreht sich um den Selbstmord von Hannah Baker, einer
fiktiven Highschool-Schülerin. Doch die Filmhandlung hat offensichtlich
Auswirkungen bis ins «real life» – psychiatrische Notaufnahmen schlagen
jedenfalls Alarm.
Szene aus «13 Reasons Why»
Dagmar Pauli ist Chefärztin der
Kinder- und Jugendpsychiatrie Zürich. Sie bestätigt gegenüber Medien, dass die
in Europa über Netflix verfügbare Fernsehserie «Tote Mädchen lügen nicht» (im
Original: «13 Reasons Why») dazu führte, dass mindestens 40 Fälle von
Jugendlichen notfallmässig in die Psychiatrie eingeliefert wurden. Eine
Jugendliche erzählte, dass sie sich noch nie so verstanden gefühlt habe wie
beim Schauen der Serie, die den Suizid einer Jugendlichen beschreibt.
«Tote Mädchen lügen nicht»
Netflix-Cover «Tote Mädchen lügen nicht»
«Ich werde dir gleich die
Geschichte meines Lebens erzählen. Genauer gesagt: Warum mein Leben endete…» Damit
steigt Hannah Baker (im Film gespielt von Katherine Langford) direkt ins Thema
der Serie ein. Die Highschool-Schülerin hat sich vor zwei Wochen das Leben
genommen. Jetzt bekommen Freunde und Mitschüler ein Paket. Absender: Hannah.
Darin sind Audio-Kassetten, auf denen der Teenager 13 Personen eine Mitschuld
an ihrem Tod gibt: «Ich werde vielleicht nie wissen, warum du getan hast, was
du getan hast, aber ich kann dafür sorgen, dass du weisst, wie es sich anfühlt.
Wenn du die Wahrheit wissen willst, drück einfach auf PLAY.» Das Ganze beginnt
mit Clay, der in Hannah verliebt war. Durch seine Augen sehen die Zuschauer die
Gegenwart, durch Hannahs die Vergangenheit. Und sie begegnen einer «normalen»
Teenagerwelt voller Tabus bis hin zum Suizid, die durch den Tod der
Protagonistin zur Sprache kommen.
«Tote Mädchen lügen nicht» ist
ursprünglich ein Roman des US-Autors Jay Asher. Ohne jede Verlagswerbung wurde
sein Erstlingswerk von 2007 zu einem Bestseller. Der Roman wurde in 37 Länder
verkauft, stand 57 Wochen lang auf der Bestsellerliste der New York Times und
gewann zahlreiche internationale Literaturpreise. Die Schauspielerin Selena
Gomez war so von dem Buch angetan, dass sie es verfilmen wollte. Sie
produzierte die Serie, die in bislang zwei Staffeln im US-Fernsehen lief und
inzwischen über den Streamingdienst Netflix verfügbar ist. Die dritte Staffel
ist in Vorbereitung.
Wirkung und Kritik
Die Handlung von Buch und Filmen
riefen viel Lob hervor. «Diese Frage nach Moral und Schuld, die macht diese
Serie so tiefgründig. Das ist zwar eine Teenie-Serie, aber definitiv nicht nur
für Teenies», erklärte der WDR. Und die renommierte FAZ legte nach: «Jay Asher
hat es weder sich noch seinen Figuren leicht gemacht. […] [Das Buch] ist nicht
pädagogisch, nicht altklug, es ist kompliziert.» Früh wurde jedoch auch Kritik
an den expliziten Gewaltdarstellungen laut. Schon aufgrund des Buches wurde
Autor Jay Asher in den USA wegen der darin vorkommenden sexuellen Gewalt aus
der Gesellschaft der Kinderbuchautoren und Illustratoren ausgeschlossen. Besonders
in der Filmserie bestimmen Mobbing, Gewalt, sexuelle Belästigung,
Vergewaltigung und immer wieder Suizid die Handlung.
Die australische
Gesundheitsorganisation «Headspace» wirft Netflix vor, «gefährliche Inhalte» im
Zusammenhang mit Suizid zu zeigen und warnt: «Die nationalen Online- und
Telefonberatungsstellen haben eine wachsende Zahl von Anrufen und E-Mails
direkt auf die Serie bezogen erhalten.» Sie kritisiert es als
verantwortungslos, dass Hannahs Suizid-Methode in der Serie dargestellt wird. «Die
internationale Forschung zeigt ganz klar: Das Risiko für Suizid steigt, wenn
Menschen solchen Eindrücken ausgesetzt sind», schreibt Steven Leicester,
Vorstand von Headspace.
«Jugendliche heute stärker suizidal»
Dagmar Pauli, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie Zürich
In Deutschland liess sich laut der Telefonberatung
«Nummer gegen Kummer» bis vor einer Weile noch keine konkrete Auswirkung der
Serie «Tote Mädchen lügen nicht» erkennen.
Psychiater der Universitätskliniken
Zürich und Genf wie die bereits zitierte Dagmar Pauli zeichnen für die Schweiz
ein anderes Bild. Die notfallmässigen Einlieferungen wegen Suizidgedanken
hätten sich allein im letzten Jahr gegenüber der Zeit davor fast verdreifacht.
Pauli erklärte gegenüber dem SRF: «Die Zahlen sind alarmierend und sie zeigen,
dass heute Jugendliche in einer schweren Lebenskrise stärker suizidal sind als
noch vor einigen Jahren… Früher experimentierten Jugendliche in einer schweren
Lebenskrise mit Drogen oder Alkohol, heute machen sie sich Gedanken, sich
selbst etwas anzutun.»
«Über Suizid sollte gesprochen werden»
Nach zum Teil heftiger Kritik in
den USA reagiert Netflix mit einem «Disclaimer» in der Serie. Im Abspann jeder
Folge warnen die Schauspieler inzwischen: «Falls du selbst von solchen Problemen betroffen bist, ist das
vielleicht nicht das Richtige für dich.» Anne Edan vom Universitätskrankenhaus
Genf schätzt den Effekt der Serie nicht nur negativ ein: Die Serie trage
dazu bei, dass über Suizid gesprochen wird, und was die Folgen von schweren Krisen
sein können. «Das ist sehr wichtig und
kann helfen», erklärte sie dem SRF.
Vorgänger und der «Werther-Effekt»
«Tote Mädchen lügen nicht» ist
nicht die erste Fernsehserie, die solche Folgen hat. Bereits 1980 produzierte
das ZDF den Sechsteiler «Tod eines Schülers». Jede Folge begann damit, dass der
Schüler Claus Wagner sich das Leben nahm und zeigte dann eine weitere
Perspektive seiner Freunde, Lehrer und Angehörigen. Damals nahm in Deutschland
der Schienensuizid sprunghaft zu. Ein Zusammenhang lag auf der Hand, war aber
nicht direkt zu beweisen. Trotzdem war die Sendung fast 30 Jahre für die
Ausstrahlung gesperrt, bevor sie 2009 wieder freigegeben wurde.
Die Nachahmung eines Suizids wird
als «Werther-Effekt» beschrieben. Auch nach Goethes bekanntem Briefroman sollen
sich junge Männer wie ihr Vorbild Werther erschossen haben. Die neuere
Forschung bestätigt diesen Effekt. Reale, prominente Identifikationspersonen,
die sich das Leben nehmen, erhöhen das Risiko für Nachahmer am deutlichsten.
Genau deshalb hat zum Beispiel der Deutsche Presserat beschlossen, nur sehr
zurückhaltend über Suizide zu berichten. Verpflichtend ist dies jedoch nicht.
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