Spanien

Evangelische Christen im Aufschwung

Ein Spanier fragt den andern: „Glaubst du auch, dass Spanien zwei Probleme hat: Gleichgültigkeit und Unwissenheit?“ Der andere: „Ich weiss es nicht – und es interessiert mich nicht.“ Der Witz illustriert, wie Spanier miteinander umgehen. In diesem Umfeld findet das Evangelium mehr Gehör – doch treffen evangelische Gemeinden, weiterhin eine kleine Minderheit, auf komplexe Rahmenbedingungen.

Wie viele Protestanten gibt es in Spanien? So einfach die Frage, so kompliziert ist die Antwort. Der deutsche Theologe Uwe Hutter, der seit 21 Jahren im Land lebt und als Dozent am evangelischen Seminar SEFOVAN in Madrid lehrt, holt weit aus, um die verschiedenen Zahlen, die herumgeboten werden, miteinander in Beziehung zu setzen.

Sonnenanbeter und Schattenarbeiter

Da gibt es erstens die kleinen Ausländergemeinden in Grossstädten und die über die Halbinsel verstreuten evangelikalen Freikirchen von Spaniern, die schon vor Jahrzehnten bestanden und seither insgesamt ein bescheidenes Wachstum verzeichnen. Weitgehend unabhängig von ihnen sind seit 1980 (??) grosse Zigeunergemeinden entstanden. Im weiteren haben drei Organisationen aus der Drogenrehabilitation heraus Gemeinschaften aufgebaut – und sonnenhungrige Westeuropäer sich in Massen an Spaniens Küsten niedergelassen. Daneben haben im Zug der Globalisierung Hunderttausende von Lateinamerikanern diesseits des Atlantiks Arbeit und Auskommen gesucht. Die neusten Wellen von evangelischen Zuwanderern kommen aus Rumänien – und China.

Soweit der erste Überblick, den Uwe Hutter (in Spanien nennt er sich José) im Gespräch vermittelt. Bei den jüngsten Gruppen sticht der grelle Kontrast zwischen den Migranten und den protestantischen Dauerurlaubern auf. Die Skandinavier, Briten, Deutschen, Holländer und Schweizer, die eine sonnige Bleibe fürs Geniessen oder ihren Lebensabend gewählt haben und über eine Million zählen, leben meist ohne kirchliche Bindung.

Erweckung unter den ‚gitanos‘

Eine andere Welt tut sich abseits der Zentren auf: Ein einzigartiger Wind der Erweckung ist über die ‚gitanos’ hinweggezogen; heute finden sich etwa 150'000 Zigeuner in den ‚iglesias de filadelfia’. Obwohl evangelisch geprägt, leben sie aufgrund ihrer Kultur in einer eigenen religiösen Welt. Aus der Arbeit unter Drogensüchtigen von Reto, Betel und Remar sind Gemeinden mit vielleicht 200'000 Besuchern entstanden. Sie sind offen für interessierte Einheimische und wachsen weiterhin. Die übrigen evangelischen Gemeinden (ältere und neue Freikirchen) dürften laut Hutter knapp 100'000 praktizierende Glieder haben. Wer will, kann alle diese Gruppen zusammenzählen und als Summe 1,5 Millionen Protestanten nennen – eine beachtliche Zahl, nie zuvor dagewesen im Land des Ignatius von Loyola, das heute 42 Millionen Einwohner zählt.

Unversöhnliche Lager

Die Einwohner des grossen Landes südlich der Pyrenäen sind vielfach in unversöhnliche Lager gespalten (national: Spanier, Katalanen, Basken; religiös: katholisch, Freidenker; sozial: Stadt, Land, Neureiche, Arbeiter, Einheimische, Migranten). Dem Spanier fällt es laut Hutter „eminent schwer, überhaupt zu versuchen, objektiv und ausgewogen zu sein“. Die Mächtigen im Land des Don Quichote würgten die Reformation ab, was bis heute nachwirkt. Das Reich, dessen Goldenes Zeitalter El Greco und Velázquez auf der Leinwand verewigt haben, schlitterte in den Niedergang.

Der Staat schottete sich für Jahrhunderte ab, bevor er sich in die EU einbinden (und von ihr verwöhnen) liess. 30 Jahre Demokratie haben keine politische Mitte entstehen lassen. Die Neigung der Spanier zu Extremen sieht der deutsche Theologe vor dem Hintergrund der jüngeren Geschichte mit Klassenkampf, Bürgerkrieg und Francos Herrschaft: „Es ging immer zwischen Anarchie und Diktatur. Daraus ziehen Spanier das Motto: Wenn ich nicht regieren kann, dann keiner.“

Das Gemeinsame pflegen

All dies macht es den Protestanten nicht leichter, in ihrer Vielfalt und Zersplitterung das Gemeinsame zu sehen und zu pflegen. Immerhin gibt es mehr und mehr Gemeinden in den Städten, in denen sich Einheimische, Latinos, Studenten aus dem EU-Raum und Afrikaner treffen und miteinander den Willen Gottes suchen. Viele Gemeinden scheinen allerdings überfordert mit der Integration von Migranten; die Latinos stellen da und dort am am Sonntagmorgen die Mehrheit der Besucher.

Konservative Regierung verweigerte das Gespräch

Der Dachverband FEREDE, der 85 Prozent der evangelischen Gemeinden Spaniens nach aussen repräsentiert, hat keine theologische Kompetenz – er ist eine Interessenvertretung vor allem gegenüber dem Staat. Die konservative Regierung Aznar (1996-2004) hat den Evangelischen konsequent die kalte Schulter gezeigt und mit der katholischen Kirche gerudert. Dagegen wollen die derzeit regierenden Sozialisten die Macht des Katholizismus brechen und Religion ins Belieben des Einzelnen stellen. Mit ihnen haben die Evangelischen das Heu in ethischen Fragen (Abtreibung, gleichgeschlechtliche Paare) nicht auf der gleichen Bühne.

Vermehrt öffentlich wahrgenommen

Eine 15minütige Sendung im staatlichen Fernsehen steht den Evangelischen zu – Ausdruck der Toleranz für religiöse Minderheiten, auch den Islam. Die Evangelische Allianz Spaniens bemüht sich von Barcelona aus, das Gemeinsame bewusst zu machen und Christen zu vernetzen; ihr Internet-Dienst wird von vielen genutzt. Wenn mit diesen Strukturen die Protestanten als eine Gruppe wahrgenommen werden, so kocht doch jede Denomination ihr eigenes Süppchen. Uwe Hutter nimmt nach dem Ende der Diskriminierung, die die ‚evangelicos’ zusammenstehen liess, auch ein gewisses Konkurrenzdenken wahr. Umso wichtiger sind evangelische Ausbildungsstätten wie das Madrider SEFOVAN, in denen junge Christen aus verschiedenen Kirchen einander kennen und schätzen lernen.

Lieber ins Stadion als zur Messe

Die Klammer des katholisch gehärteten Nationalismus, die Francisco Franco als Caudillo dem Land verpasste, hat sich nach seinem Tod 1975 aufgelöst. Im rasanten Wandel zur offenen Gesellschaft mit Millionen religiös heimatloser Menschen sieht die katholische Kirche alt aus. Für die progressive Mehrheit der Bevölkerung in den Städten hat die einst herrschende Institution ihre sinnstiftende Funktion verloren. In der Metropole Madrid praktizieren nach Hutters Schätzung kaum 10 Prozent der Katholiken ihren Glauben. Gegenüber den Hunderttausenden, die am Wochenende ihren Fussballgöttern zujubeln, im Stadion, in Bars und vor der eigenen Glotze, nehmen sich die Grüppchen der Messbesucher erbärmlich aus. Mit ihrem Grundbesitz und Unternehmen, die dem Opus Dei gehören, hat die Katholische Kirche allerdings weiterhin beträchtlichen wirtschaftlichen Einfluss.

„Es igual“

Über Jahrhunderte gab die spanische Kirche vor, was zu tun und zu glauben war. Wer religiös querdachte oder fehlging, bekam es mit der Inquisition zu tun. Wer nicht in den Schoss der ‚iglesia’ zurückkehrte, kam auf den Scheiterhaufen. Mit der Glaubensfreiheit und Toleranz, die Millionen ersehnten, hat nun aber auch die moralische Gleichgültigkeit im Land Einzug gehalten. „Es igual – ist mir doch gleich“: der Satz ist oft zu hören. Jeder sucht seine Nische; in den Städten wird grundsätzlich jeder Lebensentwurf toleriert – niemand soll die absolute Wahrheit für sich beanspruchen.

Privates Glück

‚Die Familie’ ist dem Spanier zwar heilig, doch bindet sie die Mehrheit der Iberer nicht mehr an die Kirche. Señor Lopez sucht sein privates Glück – mit der Partnerin, die einen besseren Job anstrebt, um bei der hohen Hyposchuld mehr fürs Leben zu haben, mit dem selbstbewussten Junior, der ein PC-Spiel braucht, in den eigenen vier Wänden, im sorgfältig ummauerten Gärtchen, mit dem Sonntagsausflug im eigenen Auto.

Toleranz gegenüber Muslimen?

Ob die Bedrohung durch Islamisten (die Spanien aufgrund des mittelalterlichen Maurenreichs als Dar-al-Islam beanspruchen!) die Spanier zusammenrücken lässt? Der vom weit links stehenden Ministerpräsident Zapatero propagierte Dialog der Kulturen finde im Alltag nicht statt, sagt Hutter. Spanier hätten Mühe, sich mit fremden Kulturen zu befassen. Sie tun sich – was der Tourist im Dorf am eigenen Leib erfährt – mit Fremdsprachen sehr schwer. Man erwarte, dass der Ausländer sich anpasst, sagt der Dozent. „Die meisten Leute sind sich nicht im klaren, was auf uns zukommt.“

Da Muslime viel mehr Kinder haben (und die zugewanderten Marokkaner ihrer archaischen Kultur in aller Regel verhaftet bleiben), werden sich die Españoles der Frage nach der Grundlage des multikulturellen Zusammenlebens früher oder später stellen müssen. Mit den Urteilen über die Attentäter des 11. März 2004 hat das Land den bisher schwersten Terroranschlag in Europa wenigstens juristisch bewältigt. Vorderhand stehen der Baskenkonflikt und der katalanische Nationalismus auf der politischen Agenda weiter oben.

Wann kommt der Durst nach dem Ewigen?

Im Privaten dominiert die Gleichgültigkeit, wie sie der eingangs erzählte Witz verdeutlicht.

Uwe Hutter hofft und betet, dass in der Wohlstandswüste viel mehr Spanier einen Durst nach dem Wort Gottes kriegen und sich für das zu interessieren beginnen, was ihrer Seele auf Dauer wohl tut. Um dies zu fördern, sollten Christen in ganz Europa ihren Brüdern und Schwestern in Spanien zu Hilfe kommen: Etwa 6000 Städte und Dörfer haben noch keine evangelische Gemeinde.

Links zum Thema:
Homepage von SEFOVAN
Newsdienst der Spanischen Evangelischen Allianz
Spanien: Sonne und Schatten im Urlaubsparadies

Datum: 03.11.2007
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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