«Ich bin weg»: Warum Jugendliche Gemeinden verlassen
Oliver Rüegger, der Praktische Theologie am IGW studiert, wunderte sich, warum sich Jugendliche oft stillschweigend und ohne bekannten Grund aus der Gemeinde verabschieden. Im Rahmen seiner Masterarbeit führt er nun eine empirische Studie durch, die den Hintergründen nachgeht und Möglichkeiten sucht, wie Jugendliche ein Teil der Gemeinde bleiben können.
Oliver Rüegger
Livenet: Oliver Rüegger, Sie untersuchen in Ihrer Masterarbeit die Hintergründe, weshalb Jugendliche eine Gemeinde verlassen. Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen? Oliver Rüegger: Zu Beginn meines Erwachsenenalters stellte ich fest, dass ein erstaunlich grosser Teil meiner Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich in der Gemeinde aufgewachsen war, nicht mehr «da» waren. Sie hatten sich in der Zeit zwischen Teenager- und Erwachsenenalter irgendwann und meistens sang- und klanglos verabschiedet. Ein Gemeindeleiter fragte immer wieder: «Wo sind sie geblieben?» Er brachte damit das Unverständnis und die Ratlosigkeit zum Ausdruck, die im Zusammenhang mit dem Thema häufig auftreten. Im Gespräch mit Vertreterinnen und Vertreter von verschiedenen freikirchlichen Gemeinden und Gemeindeverbänden habe ich gemerkt, dass dies eine Frage ist, die viele beschäftigt und auf die sehr oft klare Antworten fehlen.
Weshalb setzen Sie sich mit diesem Thema auseinander?
Einer der Hauptgründe ist sicher die persönliche Betroffenheit. Dann aber auch die Tatsache, dass es keine klaren Befunde für das Phänomen gibt. Zwar haben die meisten Pastorinnen und Pastoren bzw. Jugendverantwortlichen ein «Bauchgefühl», warum ihre Jugendlichen nicht mehr in der Gemeinde sind. Doch genauer untersucht wurde das Phänomen bei uns in der Schweiz bis jetzt noch kaum. Insbesondere hat noch niemand betroffene Personen im grossen Stil direkt befragt. Des weiteren unternehmen die wenigsten Gemeinden etwas gegen die Weggänge. Hier hoffe ich, aufgrund der Untersuchung Empfehlungen für Gemeinden geben zu können.
Sie waren auch mehrere Jahre als Jugendpastor tätig – welche Erfahrungen haben Sie dort mit dem Thema «Jugendliche und Gemeinde» gemacht?
Viele Jugendliche suchen Orte und Personen, an bzw. bei denen sie respektiert werden, sich angenommen fühlen und sich selber sein können. Engagement und Loyalität sind Jugendlichen wichtig. Das heisst, sie helfen gerne mit und übernehmen auch Verantwortung. Das ist für sie selbstverständlich. Eine Gemeinde kann hier sehr gute Voraussetzungen bieten: Kolleginnen und Kollegen im gleichen Alter, ein wertschätzender Umgang miteinander, verschiedene Möglichkeiten zum Mitarbeiten – das sind zentrale Elemente. Der Glaube kommt dabei dort ins Spiel, wo sie ihre Fragen in einem Rahmen des Vertrauens stellen und offen darüber reden können, was sie wirklich bewegt. An einen Ort, an dem man Jugendlichen Vertrauen schenkt, ihnen etwas zumutet und sie ihre eigenen Ideen einbringen und realisieren können, kommen sie gerne und verbindlich. Eine Gemeinde, die ihre Jungen bevormundet und sie in den Augen der Erwachsenen zuerst etwas leisten müssen, damit man sie wahrnimmt und ihnen Verantwortung überträgt, ist für viele unattraktiv.
Sie haben bereits über 200 Personen befragt. Können Sie schon bestimmte Tendenzen aus den Antworten herauslesen und uns schon einen Vorgeschmack geben?
Über zwei Drittel der Umfrageteilnehmerinnen und -teilnehmer waren mindestens fünf Jahre in der Gemeinde, 40 Prozent sogar mehr als zehn Jahre. Die grosse Mehrheit hat sich als Teil der Gemeinde gefühlt und mitgearbeitet. Hauptgründe für den Entschluss, die Gemeinde zu verlassen, waren Zweifel in Bezug auf den Glauben, mangelnde Relevanz des Glaubens im Alltag, das Empfinden, moralisch eingeengt zu sein, oder schlichtweg fehlendes Interesse am Glauben. Viele hätten sich mehr Raum für kritische Fragen, spannendere Inputs und tiefergehende Beziehungen gewünscht.
Oliver Rüegger sucht für die Studie noch weitere Teilnehmer für die Umfrage. Interessierte Jugendliche im Alter von 15 bis 25 Jahren können die Umfrage hierausfüllen. Sie besteht aus rund 20 Fragen und dauert ca. 10 Minuten. Die Umfrage läuft noch bis Mitte März. Weitere Informationen und Kontakt unter ich-bin-weg.jimdo.com.