Tatort Familie: sexueller Missbrauch

Die obige Überschrift ist gleichzeitig der Titel des ersten Buches von Charlotte Bruderer, das vor wenigen Tagen erschien. „Jeder sexuelle Missbrauch ist tragisch, aber es sind letztlich die Folgen, die das Leben behindern“ ist die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie überzeugt. Ihr Buch soll deshalb eine Ermutigung sein, „den Betroffenen eine lebenswerte Zukunft zu geben.“

Inzestthematik im Zentrum

Die Autorin behandelt auf leichtverständliche Weise vor allem den sexuellen Missbrauch innerhalb der Familien, wobei sie dazu nicht nur Eltern, Stiefeltern und Geschwister, sondern auch Grosseltern, Onkels und Tanten sowie Cousins und Cousinen zählt. In zahlreichen Therapiestunden rund um dieses Thema hat Charlotte Bruderer festgestellt, dass ein „Grossteil des Missbrauchs innerhalb der eigenen Familie stattfindet.“ Sie zitiert in diesem Zusammenhang eine amerikanische Statistik, die besagt, „dass 84 Prozent der Taten von mindestens einem Elternteil durchgeführt wurden.“ Im westlichen Europa dürften die diesbezüglichen Zahlen nicht wesentlich anders sein.

Sexuell Missbrauchte können geheilt werden

„Sexueller Missbrauch hinterlässt in jedem Fall enorme seelische und körperliche Folgen“ ist die Autorin überzeugt. „Aus meiner reichhaltigen und jahrelangen Erfahrung als Ärztin und Therapeutin weiß ich, dass es schwer ist, über Vorkommnisse nachzudenken, die tief verdrängt wurden. Die Auswirkungen erschweren das Leben mit sich selbst und anderen noch nach Jahren.“ Ausserdem werde der intime Umgang in der Partnerschaft stark beeinträchtigt, was die eheliche Gemeinschaft gefährde. „Zu den ebenfalls weniger bekannten Tatsachen gehören die psychischen und körperlichen Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs. Auch über Möglichkeiten und Chancen einer wirksamen Behandlung ist allgemein nur wenig bekannt.“ Dennoch gäbe es eine gute Nachricht: „Es gibt nämlich reelle Chancen für eine ganzheitliche Heilung.“ Dazu brauche es allerdings die Bereitschaft, den Tatsachen ins Auge zu sehen. Zudem gelte es, mit einer fachkundigen Person daran zu arbeiten. Denn „jedes missbrauchte Kind leidet auf verschiedenen Ebenen sein ganzes Leben lang unter den Auswirkungen: es ist nicht fähig die Tatsache, zum Beispiel vom eigenen Vater oder Stiefvater verraten und verletzt worden zu sein, in irgend einer Weise einzuordnen ... Es fehlt dem inzwischen Erwachsenen an gesundem Selbstwert und an gesunder Identität.“

Zum Inhalt des Buches

Es werden durchaus nicht nur „nackte Zahlen und Fakten“ präsentiert, sondern auch auf prinzipielle Fragen wie „Was genau ist sexueller Missbrauch und wo beginnt er?“ eingegangen. Anschliessend werden zahlreiche Auswirkungen beleuchtet. Die Prävention sowie die Heilung der Missbrauchten steht jedoch letztlich klar im Zentrum des Buches. Zudem werden die fachlich kompetenten Ausführungen mit vielen Beispielen und Geschichten ergänzt. Ganz am Schluss sind im Buch auch einige Adressen aus dem gesamten deutschsprachigen Raum aufgeführt, an die sich Hilfesuchende wenden können. ‚Tatort Familie: sexueller Missbrauch‘ ist ein leichtverständliches und nachvollziehbares Buch zu einem äusserst brisanten Thema, auf das viele schon lange gewartet haben. Besonders die Betroffenen spüren ganz klar den teilnahmsvollen und aufrichtigen Herzschlag der Autorin aus den einzelnen Zeilen heraus. Charlotte Bruderer ist in unseren Breitengraden inzwischen zu einer Art Mutter Teresa der sexuell Missbrauchten geworden, bei der schon viele Heil und Trost erfahren durften.

„Tatort Familie: sexueller Missbrauch“ von Charlotte Bruderer, 144 Seiten, Franken 19.80, ISBN 3-907104-03-X

Weitere Infos und Bestellmöglichkeit unter www.uhn.ch

Datum: 05.02.2004
Autor: Urs-Heinz Naegeli
Quelle: Livenet.ch

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