Benedikt XVI.

Denker, Beter, Jahrhundert-Theologe

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Papst Benedikt XVI. (Bild: flickr / Mark Bray / https://creativecommons.org/licenses/by/2.0/)
Benedikt XVI. war nach 500 Jahren der erste deutsche Papst. Mit ihm sass von 2005 bis 2013 ein Intellektueller und Theologe von Weltformat auf dem Stuhl Petri. Nun ist der Papa Emeritus im Alter von 95 Jahren gestorben. Ein Nachruf von Giuseppe Gracia, dem Publizisten und ehemaligen Mediensprecher des Bistums Chur.

Reaktionär, weltfremd, Hardliner, Panzerkardinal: über Jahrzehnte haben ideologische und kirchenpolitische Gegner von Joseph Ratzinger versucht, dem traditionsverbundenen Theologen böse Etiketten an die Stirn zu kleben. Der Papst sollte in der Öffentlichkeit als dogmatischer Finsterling erscheinen, als fundamentalistischer Gegner des Fortschritts, der den Menschen von heute nichts zu sagen hat. Im Zusammenhang mit einem Missbrauchsfalll aus seiner Zeit als Erzbischof von München (1977-1982) sprachen ihn die Medien jüngst wegen Lüge und Vertuschung schuldig, ohne einen einzigen Beweis, ohne Gerichtsverfahren.

Ein hörendes Herz in Richtung Gott

In Wahrheit führte Benedikt XVI. den Kampf gegen Missbrauch in der Kirche so rigoros und systematisch wie kein Pontifex vor ihm. Und im Kern ging es bei den Kampagnen gegen seine Person gar nicht um konkrete, medial abgehandelte Fälle, sondern um den Versuch, seinen Charakter öffentlich hinzurichten. Das Ziel: sein theologisches Werk sollte beschädigt und für künftige Generationen toxisch gemacht werden. Man wollte ein Denken diffamieren, das nie dazu bereit gewesen ist, die Essentials des katholischen Glaubens den Standards einer postchristlichen Wohlstandskultur zu unterwerfen, so progressiv sich diese auch geben mochte.

Für eine heilsame persönliche und gesellschaftliche Entwicklung gewichtete der Theologe Ratzinger ein hörendes Herz in Richtung Gott und ein demütiges Mitgehen mit der katholischen Tradition stets höher als weltliche Sinnangebote, die Weisheit der Bibel und der Kirchenväter höher als Technik und Wissenschaft, Sanftmut und Gebet höher als politische Programme.

«Es gibt so viele Wege zu Gott»

Ein Grundlagenwerk Ratzingers, die «Einführung in das Christentum» (1968) beleuchtet Fragen zu Gott und Welt, Glauben und Wissen, Tod und Auferstehung. Dies geschieht nicht nur mit denkscharfer Klarheit, sondern mit der spürbaren Wärme eines kindlichen Gottvertrauens, das für Ratzingers Schreiben und Kommunizieren charakteristisch ist. Wie bei keinem Theologen seiner Generation sind Gottvertrauen und Vertrauen in die Tradition  verknüpft mit einer kritisch prüfenden, in die Tiefe vordringenden intellektuellen Kraft. «Es gibt so viele Wege zu Gott wie es Menschen gibt», sagte Ratzinger im lesenswerten Interview-Buch «Salz der Erde» (1996), für das er sich vom damaligen Spiegel-Redakteur Peter Seewald drei Tage lang befragen liess. Ratzinger war davon überzeugt, dass der katholische Glaube so nahe ans Innerste des Menschen rührt, an die Sehnsucht nach ewiger Liebe, dass wir nur die Hand auszustrecken brauchen um zu merken, Gott ist da, war schon immer da, lässt uns nicht ins Leere fallen.

Ging es um philosophische oder wissenschaftliche Fragen, vertrat Professor Ratzinger die Überzeugung, dass Vernunft und Offenbarung zusammengehören, so, wie das Erforschen der Welt und das Vertrauen in den Grund der Schöpfung zusammengehören. Eine reine Vernunft ohne Glaube werde kalt und herzlos, urteilte der Theologe, wie umgekehrt ein Glaube ohne Vernunft blind und fanatisch werde.

Bedeutung als Denker

Eine solche Heirat zwischen Glaube und Vernunft mag heutzutage wenig Applaus finden. Ratzingers Bedeutung als Denker hat ihm dennoch viele Ehrungen, Auszeichnungen, Ehrendoktorwürden und Mitgliedschaften eingebracht, nicht zuletzt in der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste. Der «religiös unmusikalische» Philosoph Jürgen Habermas, wie sich Habermas selber bezeichnet, setzte sich vertieft mit Ratzingers Denken auseinander. Im Jahr 2005 veröffentlichten die beiden gemeinsam das Buch «Dialektik der Säkularisierung», das nach den vorpolitischen, ethischen Grundlagen des modernen Rechtstaates und seiner Macht fragt.

Das war für Ratzinger eine fundamentale Frage, nachdem er als junger Mensch, während des zweiten Weltkriegs, den Terror der Nazis miterlebt hatte. In dieser Zeit zeigte sich für ihn die Gefahr einer gottlosen, sich selbst legitimierenden Staatsmacht. In der Biographie «Benedikt XVI., ein Leben» (2020) spricht Ratzinger von der «Ausgesetztheit im Moloch der reinen Macht». Der Nationalsozialismus als «Dämon einer von Gott getrennten Gesellschaft, als Absturz ins Böse, der sich im Grunde jederzeit wiederholen kann».

In diesem Denken wirkt die Menschheitsgeschichte wie ein unaufhörliches Ringen zwischen Glaube und Unglaube, zwischen Gottesliebe bis zum Selbstverzicht und Selbstliebe bis zur Gottesleugnung. «Wenn es nicht das Mass des wahren Gottes gibt», so die Mahnung des Pontifex, «zerstört sich der Mensch selbst.»

«Ohne Gott geht die Menschlichkeit verloren»

Der engagierte, aus den Sakramenten lebende, von der Tradition gestärkte Katholizismus, den Benedikt XVI. sich wünschte, galt der Gestaltung einer Gesellschaft, die sich wappnen sollte gegen Massenmanipulation und Massendenken. Es ist kein Zufall, dass eine solche Sicht auf Religion – Religion als göttliches Korrektiv weltlicher Macht, als Sinn und Fundament des Menschseins – bis heute Widerspruch und Anfeindung auslöst. Gerade in einer fortschrittsgläubigen Zeit, die meint, Gott überflüssig gemacht zu haben, will niemand hören, dass ohne Gott die Menschlichkeit verloren geht. Niemand will hören, dass die aktuelle High-Tech-Kultur das Christentum nicht überflüssig macht, ganz im Gegenteil. Dass der digitale Mensch ohne Gott verloren ist und die katholische Kirche das beste GPS-System bietet, um dieser Verlorenheit vorzubeugen. 

Benedikt XVI. hat weder an die Kraft eines atheistischen Humanismus noch an eine sittlich verbesserte Menschheit durch Technik und Wissenschaft geglaubt. Er hat die Anwesenheit des Heiligen ganz selbstverständlich vorausgesetzt und sich geweigert, das menschliche Dasein aufgehen zu lassen in der Banalität von Leistung, Konsum und Karriere. Das Sakramentale der Kirche war für ihn unverfügbar. Die Kirche war für ihn sogar die einzige wirkliche Gegenkraft gegen die Totalverwertung des Lebens und neue Formen des Totalitarismus.

Die innere Identität Europas

Das machte Benedikt XVI. für viele zum Ärgernis. Umso mehr, als er sich nicht beeindrucken liess vom öffentlichen Druck gegen seine Person, vom Liebesentzug einer Gesellschaft, die als obersten Massstab nur sich selber anerkennt. Diesem Papst ging es um das Erbe Europas und der freien Welt, um die Verteidigung des Menschseins selbst. Aus der Überzeugung, dass die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde und das Wissen um die Verantwortung des Menschen für sein Handeln aus der Überzeugung eines Schöpfergottes entwickelt worden ist – und dass es gefährlich wäre, dies zu leugnen oder zu vergessen.

Mit den Worten aus seiner Rede im Deutschen Bundestag am 22. September 2011: «Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom entstanden, aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas. Sie hat im Bewusstsein der Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkenntnis der unantastbaren Würde des Menschen, eines jeden Menschen, Massstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in unserer historischen Stunde aufgegeben ist.»

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Datum: 01.01.2023
Autor: Giuseppe Gracia
Quelle: Livenet

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