«Keine Opfer, die bald von der Karte verschwinden»
Die
Situation vieler Christen im Nahen Osten ist extrem schlimm – und im Westen werden
immer mehr Christen dafür sensibilisiert. Doch muss dies differenziert
gesehen werden, fordert Tim Livesey, früherer britischer Diplomat, der heute
die christliche Hilfsorganisation «Embrace» im Nahen Osten leitet. Christen im Nahen Osten als verfolgte
Opfer des Terrors zu betrachten, sei eine «simplistische» Sichtweise, die
irreführend und nicht hilfreich sei.
Tim Livesey, Leiter der christlichen Hilfsorganisation «Embrace»
Der Akzent, der in letzter Zeit auf die
Verfolgung von Christen gesetzt wurde, sei zwar gut gemeint, doch er habe eine
falsche Wahrnehmung über die Realität der Christen im Nahen Osten erzeugt. «Wir
haben eine eher reduzierende und simplistische Sichtweise des Christentums im
Nahen Osten bekommen», erklärte Livesey im Interview mit dem Nachrichtenportal Christian Today.
Insbesondere in Bezug darauf, weshalb so viele Christen Länder wie den Irak
oder Syrien verlassen. Die Abnahme der Christen im Nahen Osten habe aber nicht
überwiegend mit der Verfolgung durch Terrorgruppen wie ISIS zu tun, sondern
eher mit der abnehmenden Geburtsrate, so Livesey. Und neben der Verfolgung gäbe
es viele andere Gründe, weshalb Christen ihr Land verlassen.
Christen
spielen wichtige Rolle
Es sei gut, dass Menschen im Westen sich über
die Grausamkeiten von ISIS Sorgen machten, aber: «Wenn Sie
mit Christen im Nahen Osten sprechen, sehen diese sich nicht in solch
reduzierten Bedingungen. Sie sehen sich selbst als jemand, der eine unglaublich
wichtige Rolle in der Gesellschaft des Nahen Ostens spielt. Sie konzentrieren
sich sehr auf ihre Gemeinschaft und empfinden sich als extrem wichtig für ihre
Länder. Sie sehen sich als Leuchtfeuer der Hoffnung. Sie akzeptieren, dass dies
dunkle Zeiten sind, aber sie sehen sich innerhalb dieser dunklen Zeiten als
Salz und Licht.»
Deshalb ist es laut Livesey wichtig, dass
Christen im Westen ihre Geschwister im Nahen Osten nicht als «Opfer,
die bald von der Karte des Nahen Ostens verschinden» sehen. Denn so würden sie
sich selber auch nicht sehen.
Beste
Lösung: Kontakt zu Christen aus dem Nahen Osten
Mit dieser Ansicht stimmt auch Dr. Souraya
Bechealany, Generalsekretärin des Rates der Kirchen des Nahen Ostens, überein.
Die Realität der Christen im Nahen Osten sei «komplex
und mehrschichtig». «Der beste Weg, um unsere Realität besser zu verstehen,
ist, herzukommen und selbst zu sehen. Dann können Sie darüber reden, was Sie
wirklich gesehen, gehört und erlebt haben.»
Dies ist natürlich nicht leicht durchzuführen
und für die grosse Mehrheit der Christen nicht möglich. Doch man könne auch
einfach mit Menschen reden, die aus diesem Teil der Welt kommen, rät Livesey. «Wenn
Sie wirklich wissen wollen, wie es ist, als Christ in dieser Region zu leben,
dann fragen Sie Christen aus dieser Region – fragen Sie nicht Christen, die noch
nie dort gewesen sind, auch wenn diese es gut meinen...»