Ständige Erreichbarkeit durch Smartphone und Co.: Davon fühlen sich immer mehr Menschen getresst und psychisch belastet – bis hin zum digitalen Burnout. Doch es gibt Stragegien dagegen, ohne den digitalen Medien gleich ganz abzuschwören.
Clara Hahn war süchtig. Nach ihrem Smartphone. Keine zehn Minuten habe sie es ausgehalten, ihre dreijährige Tochter beim Einschlafen zu begleiten, ohne nach dem Gerät zu greifen. Als die Kleine ihr das zum Vorwurf machte, entschied die 30-Jährige: Das Gerät muss weg – zumindest fürs Erste. Ein Jahr lang lebte sie nur mit einem alten Nokia-Handy, um im Notfall mobil erreichbar zu ein. Zu Beginn seien regelrechte Entzugserscheinungen aufgetreten. Hahn hatte Angst, etwas zu verpassen, der gewohnte Griff in die Tasche zum Smartphone lief ins Leere. In der Wochenzeitung Die Zeit berichtete die Leiterin einer Coaching-Agentur in Berlin davon.
«Wir sind permanent in Alarmbereitschaft. Eilmeldungen, Pushbenachrichtigungen, Notifications – jede Nachricht wird direkt zu uns durchgestellt und fordert unmittelbar eine Reaktion», erkannte Hahn. Dass man dadurch dauerhaftem Stress ausgesetzt sei, habe sie erst durch die Abstinenz gemerkt.
Dass Hahn mit ihrem Empfinden nicht alleine ist, zeigt eine aktuelle Studie des «VOCER Instituts für digitale Resilienz» in Hamburg. Das Institut beschäftigt sich unter anderem mit Trendforschung, bietet Seminare und Workshops zum Thema digitale Medien an. Mitgründer ist Medien- und Kommunikationswissenschaftler Stephan Weichert. Er untersuchte zusammen mit Leif Kramp, Forschungskoordinator des Zentrums für Medien-, Kommunikations- und Informationsforschung der Universität Bremen (ZeMKI), wie gut oder schlecht Menschen mit digitalen Kommunikationstechnologien zurechtkommen.
Die Forscher befragten von Oktober bis November 2021 zusammen mit dem Meinungsforschungsinstitut Forsa 1'000 Bundesbürger zu 30 Aspekten ihrer digitalen Mediennutzungsgewohnheiten. Zusätzlich wurden deutschlandweit 60 Tiefeninterviews mit Menschen unterschiedlichen Alters und sozialer Herkunft geführt. Ein Ergebnis: 39 Prozent der 14- bis 29-Jährigen sagten, dass sich die Nutzung sozialer Medien auf ihr psychisches Wohlbefinden auswirkt – positiv oder negativ. 49 Prozent in dieser Altersgruppe gaben ausserdem an, dass es bei ihnen Stress verursacht, über digitale Geräte wie Smartphones dauerhaft erreichbar zu sein.
«Digital Natives» ohne Medienkompetenz
Das bereite Sorge, sagt Kramp im PRO-Interview. Vor allem, weil man bei dieser Altersgruppe davon ausgehe, als «Digital Natives» wüssten sie die Medien gut zu nutzen. Gerade die Jüngeren, die von Kindesalter an mit digitalen Medien sozialisiert seien, liessen sich davon aber oft fremdbestimmen. «Da gibt es eigentlich gar kein Off, weil auch alle sozialen Beziehungen digital organisiert sind.»
Geräte wie Smartphones oder Smartwatches seien im Alltag omnipräsent. Vielen Jüngeren fehlt die digitale Resilienz. Der Begriff meint, bewusst und reflektiert mit digitalen Medien umgehen zu können. Kramp nennt es gar «die grosse Schlüsselkompetenz der Gegenwart». Resilienz allgemein bedeute eine seelische und psychische Widerstandsfähigkeit gegenüber bestimmten Stressauslösern, erklärt Markus Steffens, Professor für Sozialmedizin und Chefarzt für Psychiatrie und Psychotherapie in der Klinik Hohe Mark. Dass Menschen Stress durch digitale Medien empfinden, sei ein relativ neues Phänomen, sagt Steffens gegenüber PRO.
Dass es einem selbst an digitaler Resilienz daran mangele, merke man zum Beispiel, «wenn man zum Spielball wird», sagt Kramp. In Apps wie Instagram und TikTok sei das schnell der Fall, weil sie Nutzern automatisch immer neue Inhalte vorschlügen. «Das arbeitet systematisch gegen eine bewusste, reflektierte Nutzung. Man rutscht leicht in bestimmte Nutzungsmuster, die einem nicht guttun.» Es sei nicht leicht, den Konsum herunterzufahren, ohne sich der Medien gleich völlig zu entledigen. Denn: «Komplette Abstinenz kann sich in der heutigen Gesellschaft kaum noch jemand leisten.»
Ältere kommen besser klar
Wenn man mit Stressoren nicht umzugehen wisse, könnten sie vielfältige Symptome auslösen, ergänzt Steffens: Von Schlafstörungen über Ängste, Appetitstörungen bis hin zu übermässigem Konsum von Alkohol, Nikotin oder anderen Substanzen. Man müsse dabei unterscheiden, ob es sich um Stress und einen (digitalen) Burnout oder um eine Depression handele. Ersteres bekomme man oft durch eine Auszeit wie zum Beispiel einen erholsamen Urlaub in den Griff. Bei einer Depression helfe das nicht mehr, da brauche es professionelle Hilfe. «Das, was landläufig gerne Burnout genannt wird, ist häufig eine depressive Erkrankung oder eine Angststörung», sagt Steffens.
Nicht so leicht von digitalen Geräten und sozialen Medien stressen lassen sich die 50- bis 69-Jährigen, zeigt die Studie. Dadurch, dass diese Gruppe den Umgang mit den Medien aufgrund des Alters bewusst erlernt habe, wisse sie vergleichsweise gut, wie man diese auch zielgerichtet nutze, sagt Kramp. Jüngere hingegen litten oft unter FOMO, der «Fear of Missing Out» – also der Angst, etwas zu verpassen, wenn man nicht online ist. «Die psychische Belastung trifft aufgrund ihrer starken Verwurzelung und Vernetzung in digitalen Medien eher die Jüngeren», sagt Kramp.
Zu viele Nachrichten überlasten
Aber auch für Ältere ist die Nutzung digitaler Medien nicht immer entspannt. In der Studie empfanden alle Altersgruppen zu über 80 Prozent Fake News und Desinformation als ein grosses Problem und wünschten sich, dass mehr gegen deren Verbreitung vorgegangen wird. Fast genauso viele wünschten sich ausserdem, dass in sozialen Medien netter und sachlicher miteinander diskutiert wird. Mehr als die Hälfte aller Befragten sagte zudem, dass sie in dem sozialen Netzwerk, was sie selbst am häufigsten nutzen – bei Jüngeren eher Instagram, bei Älteren eher Facebook – viel Hass und Hetze wahrnehmen. «Es gibt ein starkes Problembewusstsein und viele schweigen im Netz, weil Unhöflichkeit, Hassrede und Hetze so präsent sind», sagt Kramp.
Die Wissenschaftler stellten zudem eine Nachrichtenmüdigkeit in der Bevölkerung fest, besonders in der aktuellen Krisenzeit. Viele fühlten sich von Nachrichteninhalten überfordert, sagt Kramp. Zwar sei zu Beginn einer Krise wie der Corona-Pandemie das Interesse an Nachrichtentickern gross. Vielen sei das aber auf Dauer zu belastend und sie könnten die Menge an Inhalten nicht verarbeiten. Bei den Befragten der Studie gab ein Fünftel an, dass sie seit Beginn der Pandemie weniger Nachrichten konsumieren, weil diese sie belasten. Viele haben auch Schwierigkeiten, bei der Anzahl an Online-Informationen den Überblick zu behalten – 28 Prozent bei den 14- bis 29-jährigen und 26 Prozent bei den 50- bis 69-jährigen.
Die Folge einer solchen psychischen Belastung sei, dass man den Nachrichtenkonsum weit reduziere bis hin zur völligen Verweigerung im Extremfall – dem sogenannten «News Burnout». Das sei gefährlich, weil diese Haltung Fake News und Desinformationen die Türen öffne, sagt Kramp.
Medienmacher haben grosse Verantwortung
Durch Live-Ticker und Ähnliches wirkten Krisen auf viele Menschen schnell sehr dramatisch und umfassend. Zwar müsse Journalismus auch «sagen, was ist», doch das setze viel Eigenverantwortung und intellektuelles und psychisches Verarbeiten bei den Adressaten voraus, so Kramp. Genauso wichtig sei es, dass Medienmacher Nachrichteninhalte nicht für sich stehen lassen, sondern sie breit diskutieren und Hintergründe erklären. «Medien müssen auch sicherstellen, dass die Öffentlichkeit hergestellt wird und dass die Menschen erreicht werden.»
Mit Blick auf die Zukunft sagt Kramp: «Die digitale Mediennutzung wird weiterhin zunehmen. Es wird sich zuspitzen, gesundheitliche Schwierigkeiten werden zunehmen, besonders psychische Belastungen.» Als Gesellschaft könne man bildungspolitisch aber viel tun: Mit Vermittlung von Nachrichtenkompetenz, Kampf gegen Desinformation und perspektivenreicher Berichterstattung.
Gottesbeziehung kann schützen
Verschiedene Studien zeigen ausserdem, dass Gläubige besser mit Stressfaktoren, auch durch digitale Medien, klarkommen. In der Resilienzforschung gebe es viele Erkenntnisse darüber, dass Religiösität ein Schutzfaktor, ein sogenannter Resilienzfaktor, sein kann. Es müsse sich jedoch um eine persönliche Gottesbeziehung handeln, sagt der Mediziner Steffens.
Wer im Glauben an einen liebenden Gott lebe, sei tendenziell besser geschützt vor negativen, äusseren Einflüssen. Auch positive Kontakte zu anderen könnten ein Resilienzfaktor sein – eben auch in der Gemeinschaft mit anderen Gläubigen. Studien hätten auch gezeigt, dass sich eine sichere Bindung in Kindheit und Jugend positiv auswirke. Auch hier helfe es besonders, wenn man eine solche sichere Bindungserfahrung in der Gottesbeziehung erlebe.
Diese Schutzfaktoren böten jedoch keine hundertprozentige Sicherheit. Mangelnde Resilienz oder auch Depressionen «können jeden Menschen treffen». Im Gegenzug sei es auch falsch, zu sagen: «Wenn ich unter der Belastung leide, ist an meinem Glauben etwas falsch.» Als Gläubiger im oben genannten Sinne habe man jedoch einen höheren Schutz.
Schwerer mit der Resilienz hätten es Menschen mit einer pessimistischen Lebenseinstellung und solche, die von Natur aus eher introvertiert seien. Auch wer «in engen familiären Verhältnissen» wie Armut oder in einer Reihe von Geschwistern mit sehr geringem Altersabstand aufgewachsen oder in der Schule eher ein Aussenseiter gewesen sei, habe es schwerer. «Genau da setzen aber auch die Resilienzfaktoren an», sagt Steffens.
Digitalem Stress zu entgehen, hängt auch am Einzelnen. Die Erkenntnis, dass es Pausen von Smartphone und Social Media braucht, ist bei Vielen bereits da. 54 Prozent der 14- bis 29-Jährigen gaben in der Studie an, ihr Stress und ihre Belastung durch digitale Mediennutzung verringere sich, wenn sie Zeit in der Natur oder mit anderen Menschen verbrächten. Die Hälfte der Jungen hält es für gut, die Nutzungsdauer zu verringern.
Ab nach draussen
Das hält auch Steffens für sinnvoll. Er verdeutlicht es anhand des Bildes einer Waage: «Auf der einen Seite sind die digitalen Stressoren, die die innere Waage aus dem Gleichgewicht bringen können.» Um die Waage wieder auszugleichen, könne man von dieser Seite etwas runternehmen – die zeitliche Begrenzung des Konsums. Gleichzeitig «kann ich auf die andere Waagschale Dinge legen, die mir gut tun, also ein Gegengewicht schaffen: Positive Kontakte, gemeinsam gelebter Glaube, Unternehmungen mit anderen.»
Clara Hahn hat sich nach einem Jahr wieder ein Smartphone angeschafft. Jetzt ist es für sie aber nur noch ein Werkzeug im Alltag, das in der Schreibtischschublade bleibt, wenn sie im Park spazieren geht. Für sie war das Experiment auch ein Ausbrechen aus der Leistungsgesellschaft. «Ich glaube, der Gewinn des analogen Lebens liegt darin, auch mal keinen Plan zu haben, nicht direkt die Antwort zu wissen. Nur so bleiben wir neugierig und offen für das Leben und andere», berichtet sie.
Drei Tipps zum Durchatmen
Smartphone-Zeit kontrollieren: Setzen Sie sich feste Zeiten, in denen Sie Soziale Netzwerke nutzen, Nachrichten oder Ähnliches konsumieren. In den Einstellungen des Smartphones lässt sich für viele Apps einzeln die gewünschte Nutzungsdauer festlegen. Ist die erreicht, erscheint eine Warnung auf dem Bildschirm.
Sich selbst etwas Gutes tun: Beschäftigen Sie sich mit Dingen oder umgeben Sie sich mit Menschen, die Ihnen und Ihrer Psyche gut tun, um negative Erfahrungen und Eindrücke beim Medienkonsum auszugleichen: spazierengehen, Sport treiben, ein gutes Buch lesen, Zeit mit Gott verbringen, Treffen mit guten Freunden, soziale Kontakte in der Gemeinde pflegen. Am wichtigsten: Die Welt geht nicht unter, wenn man nicht dauer-online ist.
Raus in die Natur: Gehen Sie raus an die frische Luft, am besten mit Blick ins Grüne. Schon 15 bis 30 Minuten reichen, um den Kopf freizukriegen. Lassen das Smartphone dabei zuhause oder schalten Sie es aus und nehmen Sie Ihre Umwelt bewusst wahr.
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