Es sind Kommentare wie «Ich war auch schon mal
traurig» oder «Reiss dich einfach zusammen!», die depressiven Menschen zeigen,
dass man sie nicht versteht. Die Kampagne #notjustsad (nicht nur traurig) wirbt
um Verständnis und erzeugt Sichtbarkeit.
5,3 Millionen erwachsene Deutsche leiden laut der Stiftung Deutsche Depressionshilfe
im Laufe eines Jahres unter starken und länger andauernden depressiven
Störungen. Ältere Menschen und Jugendliche sind bei diesen über acht Prozent
der Bevölkerung noch nicht einmal erfasst. Gleichzeitig kämpfen Betroffene
damit, dass ihre Erkrankung nicht als solche wahrgenommen wird, weil sie schwer
greifbar und nicht direkt sichtbar ist. Ein Gipsbein sieht und erkennt man –
und im besten Falle erfährt die Person mit dem gebrochenen Bein die
Unterstützung, die sie braucht. Depression ist nicht so einfach erkennbar. Für diese
Sichtbarkeit wirbt seit ein paar Jahren die Kampagne mit dem Hashtag
#notjustsad, unter anderem mit Tweets, die lachende Menschen zeigen.
Untertitel: «Dieser Mensch hatte da gerade schwere Depressionen. Sieht man
nicht? Genau das ist das Problem.»
Das Problem der Unsichtbarkeit
Warum bleiben weit verbreitete Krankheiten wie die
verschiedenen Arten von Depressionen so unsichtbar? Zum Teil liegt es wohl
daran, dass unsere Gesellschaft nicht auf Probleme, sondern auf Lösungen
ausgerichtet ist. Es ist okay zu sagen, dass man krank ist – wenn sich der
Status in absehbarer Zeit ändert. Krank sein und krank bleiben und dann auch
noch ohne erkennbare Ursachen hat hier keinen Platz.
Eigentlich sollten hier
Kirchen und Gemeinden ihren grossen Auftritt haben. Wo sonst sind Schwache,
Kranke und Angeschlagene willkommen, wenn nicht in ihrer Mitte und bei Jesus
Christus selbst, der seine Arme weit geöffnet hält und durch die Jahrhunderte
hindurch ruft: «Kommt alle her zu mir, die ihr euch abmüht und unter eurer Last leidet! Ich werde euch Ruhe geben» (Matthäus, Kapitel 11, Vers 28)? Doch scheinbar leiden
viele Christen unter demselben zerstörerischen Mechanismus wie ihre Umgebung.
Während es in der Gesellschaft heisst: «Die Therapie und die Tabletten müssen
doch endlich wirken», heisst es in der Gemeinde: «Wir haben doch dafür gebetet…» Am Ende vom Lied bleiben depressive Menschen nicht selten auf der Strecke
und sind zusätzlich stigmatisiert, weil sie sich scheinbar nicht helfen lassen wollen.
Dabei ist es wichtig zu unterstreichen, dass echte Hilfe möglich ist – durch
Gebet, Therapie und Medikamente –, allerdings nicht immer und nicht
allumfassend. Und mit dieser Situation müssen nicht nur die Betroffenen
zurechtkommen, sondern auch ihre Umgebung.
Schritte in die richtige Richtung
Das Sichtbarmachen von Depression mitten in unserer
Gesellschaft und auch in unseren Kirchen und Gemeinden ist dabei ein wichtiger
Schritt. Es offenbart zwar ein Stück weit die Ohnmacht der Helfenden, aber in
erster Linie stärkt es die Betroffenen und zeigt ihnen: Du bist nicht allein!
In Deutschland geht man von ca. 9'000 Suizidfällen pro Jahr aus, das sind fast
viermal so viele wie Verkehrstote im gleichen Zeitraum, und die meisten von
ihnen haben eine Depressionsvorgeschichte. Das Sichtbarmachen von Depressionen
kann Menschen im Vorfeld helfen, anstatt hinterher festzustellen, dass wieder
jemand seiner Depression erlegen ist.
Dazu tragen auch Prominente bei, die mit ihrer
Depression in die Öffentlichkeit gehen, und dabei genau wie normale
Arbeitnehmer in Kauf nehmen, dass sie berufliche Nachteile erfahren. Tragisch
war der Suizid des Fussballspielers Robert Enke 2009, der sich erst in seinem
Abschiedsbrief zu seiner Depression bekannte. Damit sich so etwas nicht
wiederholt, brechen Prominente vermehrt ihr Schweigen und sprechen über ihre
dunklen Zeiten: die Schauspielerin Nora Tschirner genauso wie die Comedians
Torsten Sträter und Kurt Krömer. Als Letztere sich im Fernsehen über ihre
«Schlagseite» unterhielten, bedankte sich Tschirner bei ihnen und schrieb: «Ein
Winken aus dem Leben danach. Ist schön hier.» Darunter setzte sie das Schlagwort #endthestigma
– ebenfalls eine Netzkampagne rund um psychische Gesundheit.
Depression unter Christen
Wenn jedes Jahr um die acht
Prozent der Bevölkerung an einer massiven Depression leiden, wenn ein Viertel
aller Menschen dies mindestens einmal im Leben mitmacht, dann wird es höchste
Zeit, Depression in unseren Gottesdiensten zu thematisieren – und zwar
differenziert. Da soll und muss es ein Angebot für Gebet geben, aber genauso
das Bewusstsein, dass es inzwischen gute und wirksame Medikamente gibt. Da ist
es dringend notwendig zu zeigen, dass Depression kein Zeichen von
Ungeistlichkeit oder Sünde ist, sondern eher eine ererbte Veranlagung. Da ist
es an der Zeit klarzustellen, dass viele Christen depressiv sind. Ein Charles
Haddon Spurgeon konnte offen darüber reden – heutige geistliche Leitende tun
sich da scheinbar schwerer als er oder die oben genannten Prominenten. Da ist es
höchste Zeit zu realisieren, dass Gott Mensch wurde, um Heil zu bringen.
Tatsächlich kam Gott als «Heiland» in die Welt und nicht als Kosmetiker, weil
wir nicht ein paar leichte optische Korrekturen nötig haben, sondern
grundständige Hilfe. Im Umgang mit Schuld, aber auch im Umgang mit Krankheiten
wie Depression. Manches dabei wird uns lange begleiten, aber Gott geht mit.
Sehen Sie sich hier einen Livenet-Talk zum Thema Depressionen an:
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