Erfülltes Leben – trotzdem

Für ein erfülltes Leben kann man gute Leitlinien und Regeln formulieren. Wie aber kann erfülltes Leben für Menschen aussehen, die von Verlust, Krankheit oder anderen "Schicksalsschlägen"
betroffen sind? Weshalb nehmen sich Menschen das Leben? Wir sprachen darüber mit dem Religionslehrer, Seelsorger und Psychotherapeuten Pfr. Reinhard Egg.

Bausteine: Pfr. Reinhard Egg, welches sind für Sie die wichtigsten Aspekte eines erfüllten Lebens?

Mein wichtigster Kernbegriff lautet Vertrauen, dann folgt die Dankbarkeit. Wir sind kein Zufallsprodukt,
hinter unserem Leben steht Gottes Wille. Wir sind Teil seines Heilsplanes für diese Welt und können uns darauf verlassen, dass er unser Leben führt und in der Hand hat. Ich weiss mich von ihm geführt und gehalten. Zum
Begriff "Dankbarkeit" gehört, dass wir bewusst aus Gottes Gnade leben. Dankbarkeit hat mit Vergebung
und dem bewussten Wahrnehmen dessen, was in unserem Leben stattfindet, zu tun.

Gilt das auch für Menschen, deren Grundbedürfnisse nicht gedeckt sind, oder die am Leben leiden, zum Beispiel an einer schweren Krankheit oder Behinderung? Müssen auch sie dankbar sein?

Ich bin Spitalpfarrer an einer Rehabilitationsklinik für schwer kranke Menschen. Ich spreche mit Menschen nach Hirnschlägen, schweren Unfällen oder Suizidversuchen. Auch mit Herz- und Lungenkranken. Ich spreche mit
diesen Menschen vom Vertrauen und versuche ihnen zu helfen, einen Sinn in ihrer Lage zu finden. Wer einen Sinn findet, kann anders mit seiner Situation umgehen. So beginnen sich betroffene Menschen etwa zu fragen, ob sie in eine neue Aufgabe berufen sind. Ich denke an eine etwa 70-jährige Frau, die nach einem Hirnschlag von einer halbseitigen Lähmung betroffen war. Sie blickte auf ein erfreuliches Leben in einer Familie mit erfolgreichen
Kindern zurück. Sie wurde sich bewusst, dass in ihrem breiten Lebensspektrum ein kleiner Sektor betroffen war: ihre Gehfähigkeit. Alles andere war ihr geblieben. Diese Sichtweise half ihr, die Situation neu zu beurteilen.

Hilft hier auch das Loslassen- Können?

Ja, es geht um die Einsicht, dass ein Mensch älter wird und so oder so loslassen können muss. Er fragt sich: Wie gehe ich mit dem Loslassen um, und wie kann ich das am besten nutzen und erleben, was mir geblieben ist? Ich
denke auch an Patienten, die eine Chemotherapie durchmachen oder schwer krank dem Tod entgegen gehen. Das ist für alle eine schwierige Erfahrung. Was mache ich mit der Diagnose, dass
ich noch zwei Monate zum Leben habe? Ich muss lernen, jeden Augenblick bewusst zu nutzen. Man tut sich zum Beispiel als Ehepaar in der Zeit, die einem noch verbleibt, alles zuliebe, was man noch kann.

Kann man dann noch gut machen, was man im Leben bislang vernachlässigt hat?

Ja. Man kann Patientinnen und Patienten auf Werte hinweisen, die sie bisher vernachlässigt haben. Ich erinnere mich an einen Patienten der nach einem Hirnschlag halbseitig gelähmt war. Er hatte ein grosses Unternehmen
aufgebaut, dessen Leitung er nun abgeben musste. Ich wurde von diesem Mann regelrecht überrascht. Zum Beispiel durch die vielen Besuchenden, die dabei erfuhren, dass ihr Verwandter oder Bekannter wirklich zu einem weisen Menschen geworden war, der sich nicht mehr an die bisherigen Aktivitäten klammerte, sondern aus Distanz das ausbaute und ausbildete, was im geblieben war. Wer ihn besuchte, erfuhr etwas aus dem Schatz seiner Weisheit.

Wie können Menschen solche positiven Aspekte ausleben, wenn sie nur noch ein kurzes Leben ohne geistige Klarheit und grosse Schmerzen vor sich haben?

Ich erlebe in meiner Arbeit zwei Gruppen. Es gibt Menschen, die eine Verankerung im Glauben oder ein gutes Verhältnis zur Natur haben. Sie reagieren ähnlich auf das Sterbenmüssen. Das Sterben ist für sie nichts Schlechtes, da es entweder ein Teil im Naturverlauf oder von Gott gewollt und geführt ist. Das Abschiednehmen,
vielleicht die Schmerzen, sind etwas Schwieriges, doch sie gehen diesem Lebensabschnitt nicht mit Panik entgegen. Eine andere Gruppe kann weder mit dem Glauben etwas anfangen noch haben diese Menschen
einen Naturbezug. Hier geht es darum, bei ihnen auszuharren und sie die mitmenschliche Nähe spüren zu lassen. Ich erlebe allerdings als Klinikseelsorger in dieser Grenzsituation selten Menschen, die es ablehnen,
dass ich ihnen Psalm 23 vorlese oder mit ihnen das Vaterunser bete.

Menschen, die einer spirituellen Ermutigung nicht zugänglich sind, scheinen eine besondere Herausforderung zu sein.

Ich versuche, den "Kairos"* zu finden, den Augenblick an dem sie darauf ansprechbar sind, dass wir im Sinne der Natur in einem Prozess des Entstehens und Vergehens sind. Ich vergleiche dann mit Tieren, die im Vorfeld ihres
Sterbens ruhig werden und warten, sobald sie spüren, dass ihr natürliches Ende gekommen ist. Man kann hier von der Tierwelt lernen, dass der Tod etwas Natürliches ist und uns keine Angst machen müsste. Ich versuche,
solchen Menschen auf diese Weise Vertrauen zu vermitteln. Wer nicht auf Geistliches anspricht, dem kann man es nicht aufdrängen. Man muss Menschen auch in dieser Situation ernst nehmen.

Sie gelten als Fachmann für die Therapie von Suizidgefährdeten und sind als Referent auf diesem Gebiet gefragt. Wie helfen Sie Menschen, die keinen Sinn mehr im Leben sehen?

Ich spreche Betroffene nicht zuerst auf die erfahrene Sinnlosigkeit an. Wer sich mit dem Gedanken trägt, Suizid zu begehen, der beschäftigt sich vor allem mit der Frage, wie er diesen Suizid ausführen will. Ich spreche deshalb
genau darüber, was Betroffene jeweils sehr erstaunt oder gar schockiert. Ich spreche mit ihnen auch über das Risiko, dass der Suizid misslingt. Ich sage ihnen sogar: "Wenn Sie sich umbringen wollen, dann nehmen Sie
auf jeden Fall eine sichere Methode, damit Sie nicht möglicherweise das Ende Ihres Lebens als schwer behinderter Mensch verbringen müssen." Ich gebe ihnen natürlich keine diesbezüglichen Ratschläge.

Im Weiteren fordere ich einen Suizidgefährdeten auf, sich vorzustellen, was nach seinem Tod geschehen wird. Er soll sich vorstellen, wer um seinen Sarg steht und was sein Tod für die betroffenen Angehörigen bedeuten könnte. Ich frage dann: "Haben Sie das so gewollt!" Bislang hat mir noch niemand geantwortet: "Ja, das will ich!" Ich gebe zu, dass dies eine etwas perfide Methode ist, denn sie nimmt den Betroffenen auch noch diesen Ausweg aus ihrer Sinnlosigkeit. Aber nun kann man darüber sprechen, welchen Ausweg es sonst noch gibt. Wir beginnen, auf der Basis gewonnenen Vertrauens miteinander zu arbeiten. Ich habe auf diese Weise zu vielen Menschen mit Suizidabsichten gesprochen und praktisch immer die Erfahrung gemacht, dass so andere Perspektiven als die Selbsttötung eröffnet werden konnten.


Ist das eine Gelegenheit, auch über den Glauben zu sprechen?

Ich arbeite als "biblisch-therapeutischer" Seelsorger und Therapeutund erwarte mindestens eine gewisse Offenheit für Glaubensfragen. Ich deklariere klar meine Position und Überzeugung. Wer dies völlig ablehnt,
dem empfehle ich einen andern Therapeuten. Wer nur mit der Kirche Mühe hat, kann aber für das
Glaubensgespräch durchaus offen sein. Ich fordere aber die Gesprächspartner auf, sich zu wehren, wenn ich sie zu stark mit geistlichen Fragen bedrängen sollte.

Die Suizidfrage hat an Aktualität gewonnen. Kommt Suizid häufiger vor, oder ist man dafür sensibler geworden?

Man ist zum Glück sensibler dafür geworden. Suizid war zu lange ein Tabuthema. Heute redet man auf allen Ebenen sehr offen darüber. Sogar auf "Suizidforen" im Internet. Auch Tagungen nehmen sich jetzt diesem Thema an.

Vor allem Jugendliche scheinen überdurchschnittlich gefährdet.

Für junge Leute ist Suizid nach dem Unfall die zweithäufigste Todesursache. Man muss darum unbedingt darüber reden.

Suizid scheint stark mit der Frage nach dem Lebenssinn, mit Lebensqualität, zusammen zu hängen.

Die Suizidfrage spielt bei mir vor allem im Religionsunterricht am Gymnasium eine Rolle. Ich spreche
sie zum Beispiel bei der Geschichte über den Tod von Saul an. Später dann zur Passionszeit mit Bezug auf den Jünger Judas. Die Schüler reagieren immer sehr lebhaft. Wir sprechen zum Beispiel darüber, dass Judas, der
sich das Leben genommen hat, auch beim Abendmahl dabei war. Wir erkennen dann, dass sogar der Suizid unter der Vergebung steht. Und dann sprechen wir darüber, weshalb sich denn Menschen umbringen. Die Frage der Bewältigung des Suizids und die Lebensqualität werden dann zentral. Ich schreibe zum Beispiel zu Beginn der Lektion an die Wandtafel: "Sich selber umbringen, darf man das?" Dann entspannt sich eine lebhafte Diskussion. Es stellen sich Fragen zum Sinn des Lebens, und das Gespräch entwickelt sich. Wir sprechen auch
über Indikatoren für Suizidgefährdung. Schüler kommen dann gelegentlich zu mir und machen mich auf einen ihrer Kollegen aufmerksam, mit dem ich vielleicht mal sprechen sollte. Ich meine, dass dies ein praktikabler Ansatz zur Suizid-Prävention in der Schule ist.


Welche Aspekte werden im Zusammenhang mit Lebensqualität angesprochen?

Lebensqualität ist natürlich eine Definitionsfrage. Ich fordere die Schülerinnen und Schüler zum Beispiel auf, darüber nachzudenken, weshalb sie an dieser Schule sind. Wir kommen darauf, dass sie sich mit ihrer Ausbildung am Gymnasium eine Voraussetzung für ein gutes Leben schaffen wollen. Dann sprechen wir aber auch über andere, die diese Chance nicht haben. Ich versuche, mit ihnen zu erarbeiten, dass das Leben
sinnvoll ist, so wie es uns gegeben ist; aber es gibt auch, eine Aufgabe zu erfüllen. Ich stelle ihnen einen geistig Behinderten vor, der gerne lebt. Er spielt in seinem Heim eine Rolle und erfüllt eine Aufgabe, indem er kleine
Theaterstücke inszeniert. Ich will bewusst machen: Man kann mit jeder Gabe ein Leben sinnvoll gestalten.

Zur Person:
Seelsorger, Therapeut, Lehrer (FIm) Pfr. Reinhard Egg (62), verh., 3 erwachsene Kinder, lebt in Erlenbach ZH. Er ist Spitalpfarrer, Konsiliarpsychologe in der Zürcher Höhenklinik Wald ZH (50%) und führt seit 1992 eine Biblisch-Therapeutische Praxis in Erlenbach ZH. Seit 1995 bietet der Theologe und diplomierte Psychologe unter dem Begriff „NLP medico“ auch Weiterbildungsseminare sowie Supervision von Ärztinnen, Ärzten und Pflegepersonal mit Schwerpunkt „Kommunikation“ an. Ein Spezialgebiet von Reinhard Egg, der lange Zeit als Gemeindepfarrer wirkte, ist der Suizid und die Therapie von Suizidgefährdeten. Er ist Verfasser verschiedener Fachpublikationen sowie von zwei im Brunnen Verlag erschienenen Büchern, darunter „Mehr haben vom Leben: Dankbar sein“ (Basel, 1993).
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Autor: Fritz Imhof
Quelle: Bausteine/VBG

Glaubensfragen & Lebenshilfe

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