Geistlicher Missbrauch – Kann es in Freikirchen dazu kommen?
"Geistlicher Missbrauch ist ebenso schädlich wie sexueller Missbrauch", heisst es in im Bericht einer kürzlich durchgeführten Fachtagung. "Er tötet die Seele und das Vertrauen im Innersten eines Menschen". Geistlicher Missbrauch kommt aber in landes- und freikirchlichen Gemeinden wohl nicht vor. Oder?
"Jede christliche Gemeinschaft birgt in sich ein geistliches Missbrauchspotential, so wie jeder Arzt das Risiko trägt, einen verhängnisvollen Fehler zu machen."
Doch, meint der Leiter eines bekannten diakonischen Werkes, Pfarrer Daniel Zindel. In der Zeitschrift "lebendig" der Stiftung "Gott hilft" schreibt er: "Jede Leitung, jede christliche Gemeinschaft, birgt in sich ein geistliches Missbrauchspotential, so wie jeder Arzt das Risiko trägt, einen verhängnisvollen Fehler zu machen". (lebendig 2/05)
Was ist "geistlicher Missbrauch"?
Zindel schreibt dazu: "Geistlicher Missbrauch ist ein falscher Umgang mit Menschen auf dem Gebiet des Glaubens mit der Folge, dass ihr Glaube (und Leben) verunsichert, geschwächt und gar nachhaltig geschädigt wird. Geistlicher Missbrauch geschieht im Zusammenwirken eines geistlichen Missbrauchsystems ("Täter") mit der inneren und äusseren Disposition eines Menschen ("Opfer"). Die Verantwortung für geistlichen Missbrauch tragen an sich alle Beteiligten, jedoch nicht im gleichen Masse." Sie hängt gemäss Zindel vom Lebensalter, Beruf, Stellung und Funktion einer Person ab. Je abhängiger (Kinder!) Gefährdete sind, desto grösser ist die Verantwortung eines Vorgesetzten oder einer Leiterin.
Wie kann es dazu kommen?
Folgende Mechanismen werden beobachtet:
1. Eine starke Leiterpersönlichkeit sucht Leute, die ihr folgen und keinen Widerspruch einlegen, was immer der Leiter beschliesst. Die Machtstellung des Leiters ist nicht hinterfragbar, unkontrolliert und wird möglicherweise mit einem fragwürdigen Autoritätsbegriff legitimiert (zum Beispiel "Stellvertreter Gottes"). Der Leitende stillt insgeheim sein eigenes Bedürfnis nach Anerkennung, Macht und Rechthaben an und durch Menschen, die ihm anvertraut oder untergeben sind.
2. Die Leiterperson erwartet hohe ethische - und eventuell fachliche - Qualitäten von ihren Mitarbeitenden oder Untergebenen. Zindel schreibt dazu: "Sie fordern nach aussen einen hohen moralischen Standart ein und verdecken gleichzeitig eigene Schlagseiten. Ihr Selbstbild ist verzerrt und pendelt zwischen Minderwertigkeits- und Allmachtsgefühlen hin und her. Sie frönen einem extremen Objektivismus, indem sie grossen Wert auf Titel und Bildung legen. Oder sie betonen einen extremen Subjektivismus, indem sie alle Entscheidungen auf übernatürliche Geistleitung und Inspiration zurückgeführen. Die Mitarbeitenden werden in einem solchen Umfeld manipulierbar. Weil sie die Erwartungen nicht erfüllen können, sind sie auf die Gnade der Leiterperson angewiesen und können nicht widersprechen. Sie fühlen sich unfähig und schuldig.
3. Menschen suchen Harmonie und Wegweisung für ihr Leben. Sie finden ihn bei starken Persönlichkeiten und kommen gar nicht auf die Idee, deren Anweisungen zu hinterfragen. Sie begeben sich freiwillig in die Abhängigkeit und entlasten sich damit von der Eigenverantwortung, der sie sich nicht gewachsen fühlen. Weil es ja so schwer ist, Gottes Willen zu erkennen, vertraut man sich gerne jemandem an, der diesen Willen offenbar erkennen und vermitteln kann. Dies kann dann bis in die kleinsten Details des Leben gehen, man möchte Gott ja auch "im Kleinen treu" sein. Das Opfer entwickelt einen Durst, endlich gebraucht zu werden, endlich dazuzugehören: "Wann sagt mir endlich jemand: Du bist gut und du machst es gut?" Solche Menschen sind dazu prädestiniert, sich einem starken Übervater auszusetzen. Doch: Wer sich aus solcher Abhängigkeit nicht befreien kann, bleibt abhängig und wird nicht wirklich erwachsen.
Das Missbrauchssystem
Zindel spricht von einem "Missbrauchssystem", das eine Art "Wagenburgmentalität" produziere. "Man konzentriert sich auf einen wirklichen oder eingebildeten Feind. Deshalb muss man zusammenstehen und darf nicht zulassen, dass durch kritische Fragen die Einheit zerstört wird. Subtile oder offene Demütigung, Gruppendruck und Indoktrination prägen das Klima. Es gibt Tabuzonen. Man darf Dinge nicht kritisch ansprechen. Wer das tut, ist negativ und damit ein Hinderungsgrund dafür, dass Gott segnen kann. Es ist verpönt, auf sich und seinen Körper zu achten. Man soll nicht auf die eigene Seele und deren Gefühle hören, denn das sei ja ohnehin nichts als Selbstbespiegelung und ungeistliches Kreisen um sich selbst.
Oft wird ein solches Ausbeutungssystem durch einen Mix von Bibelstellen "pseudotheologisch" begründetet. "Es gleicht einem Pilzgericht aus Eierschwämmen und Fliegenpilzen", so Zindel. "Richtiges ist mit Falschem vermengt. Der Auslegung fehlt die normierende Mitte der Schrift, das Evangelium Jesu Christi."
Der Ausstieg
Aus eigener Kraft ist eine Auseinandersetzung mit dem Missbrauchssystem nur dort möglich, wie es gemässigte Formen angenommen hat, "wo Veränderungs- und Lernbereitschaft bei den Verantwortlichen vorhanden sind und die Betroffenen nur eine leichte Opferdisposition mitbringen", schreibt Zindel. Vielleicht muss einem Gemeindeleiter von seinen Mitarbeitenden einmal vor Augen geführt werden, dass er autoritäre Züge angenommen hat und seine Mitarbeitenden für seine Zwecke einsetzt und manipuliert.
Oft ist aber nur ein radikaler Ausstieg möglich, ein regelrechter Bruch mit dem System. Zu dieser Loslösung brauchen Betroffene oft äussere Begleitung, Schutz und Unterstützung. Dazu Zindel: "Neben der Aufarbeitung des geistlichen Missbrauchs (sekundäre Verletzungen) rücken dabei immer stärker auch die eigenen Persönlichkeitsanteile (primäre Opferdisposition) ins Blickfeld. Diese werden dann thematisiert, wenn sie das Eintreten in einen neuen Lebensstil blockieren. Vorrang hat aber der Auf- und Ausbau einer neuen Lebens- und Glaubenshaltung. Es geht dabei um Sterben und Auferstehen: Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Vater Jesu Christi, ist nicht der Gott, den ich mir aus lauter Ungenügen, Angst und Gefallenwollen zurechtgebastelt habe. Ich verabschiede mich vom 'alten Glauben', der im Kern 'verdammte Pflichterfüllung' war. Ich lerne, dass Gott mir zuerst dienen will, bevor ich dienstfähig werde. Mir geht auf, dass der Glaube primär mit Beziehung zu tun hat und nicht mit moralischer Tugendhaftigkeit. Ich werde um die schwere Seelenarbeit nicht herumkommen, Menschen zu vergeben. Der Weg mag lang sein, und er wird Wut auslösen. Gut, das ist die Kraft zur Abgrenzung. Trauer wird sich einstellen. Nochmals gut, die Läuterung der Tränen wir frei machen. Nach diesem Prozess werde ich zu dem Punkt kommen, wo ich eigenverantwortlich vergebe - um Jesu willen. In meinem Innern wird sich dann so etwas wie Barmherzigkeit einstellen. Der Gemeinde oder Gruppe, in der ich gelitten habe, sage ich: 'A Dieu! Ich bin frei in Christus. Seid Gott anbefohlen.' Vielleicht sage ich sogar einmal 'auf Wiedersehen.'"
Anmerkung: Die Sensibilisierung für das Thema "geistlicher Missbrauch" hat neuerdings dazu geführt, dass auch mit diesem Begriff Missbrauch getrieben wird, indem Menschen, die sich mit der Leitung eines Werkes oder einer Freikirche zerstritten haben, diesen im Nachhinein geistlichen Missbrauch vorwerfen. Solche Vorwürfe können Züge eines Rachefeldzuges annehmen.