Sekte ist für mich eine Gruppierung oder Organisation, deren Überzeugungen und Praxis für mich etwas Gefährliches darstellen. Je besser ich mich selbst kenne, desto besser wird mein Urteil über diejenigen, die ich als Sekte zu erkennen glaube. Auch Kirchen- und Sektenkenner sind von einem persönlichen Werdegang geprägt und haben daraus unterschiedliche Kriterien entwickelt.
Für den Sektenkritiker Hugo Stamm vom Tages-Anzeiger scheint es ziemlich klar: Sektiererische Gruppen sind daran zu erkennen, dass sie die Freiheit der Anhänger beschneiden, sie psychologisch binden und vielleicht auch sexuell und/oder finanziell ausbeuten. Seine persönliche Wertehaltung liegt in der Freiheit des Individuums, die niemand anzutasten hat. Kritik übt er dort, wo diese Freiheit auf irgendeine Weise eingeschränkt wird.
Der bekannte Kirchen- und Sektenkenner Georg Schmid gewichtet die psychologische Dimension ebenfalls recht stark. Ihm ist aber besonders die geistige und theologische Engführung ein wichtiges Kennzeichen von sektiererischen Gruppen. Theologische Fundamentalisten, die zum Beispiel auch Teufel und Dämonen wörtlich nehmen, haben sich von der guten kirchlichen Lehre entfernt. Ausserdem die Zuspitzung auf Personen, die eine besondere Machtstellung ausüben, gefährlich.
Sektenkenner wie der Berner Pfarrer Eduard Gerber betonen als gesunde Haltung für religiöse Gruppierungen (und Kirchen) die Konzentration auf eine gute biblische Theologie. Das Sola Scriptuare der Reformation (Allein die Schrift!) hat für ihn nach wie vor grosse Gültigkeit. Eine solche bibelbezogene Haltung macht gleichzeitig tolerant für unterschiedliche Auslegungen und Sichten und selbstkritisch für Fehlentwicklungen in der eigenen Organisation und Kirchen. Er sieht sektiererische Züge nicht nur bei Zeugen Jehovas oder dem Brüderverein, sondern auch in der reformierten Kirche, in der er selbst Pfarrer war.
Der Zürcher Pfarrer Oswald Eggenberger hat in mehreren, jeweils neu bearbeiteten Auflagen des Buches „Die Kirchen, Sondergruppen und religiösen Vereinigungen“ eine Übersicht zuerst der christlichen Kirchen, Gemeinschaften Freikirchen sowie Sekten erstellt und dann auch Gruppierungen anderer religiöser und spiritueller Herkunft beschrieben. Er betont bei der Beurteilung die „biblisch-theologische Betrachtungsweise“. Sein Massstab sind „die Aussagen des Neuen Testamentes von der Verkündigung, dem Sterben und Auferstehen Jesu Christi“, wie er in der Einleitung seines Buches schreibt.
Der Basler Sektenkenner Christoph Peter Baumann kennt sowohl psychologische und theologische Kriterien, weist aber als Zeichen für sektiererisches Verhalten vor allem darauf hin, dass solche Gruppen ihre Anhänger mit Vorliebe von Kontakten mit der Aussenwelt isolieren, möglicherweise gar die Kontakte mit Familienangehörigen beargwöhnen und verbieten. Auch Kritik an der eigenen Gruppierung werde zurückgewiesen. Es gebe unantastbare Lehren und Personen.
Für die Fachleute der Zürcher Beratungsstelle Infosekta scheinen vor allem Gruppierungen in den Sektenverdacht zu geraten, deren Tätigkeit einen Bedarf an Beratung auslöst. Infosekta sieht durch sektiererische Gruppen vor allem psychisch schwache Menschen bedroht. Ihnen „versprechen Sekten und spirituelle Lehrer Hilfe. Deren Art zu helfen schafft häufig neue Probleme, von der Einschränkung der Meinungsfreiheit über seelische Abhängigkeit bis hin zur kriminellen Ausbeutung. Die Stelle veröffentlicht jährlich eine Statistik mit einer Hitparade der Gruppen, über die am meisten Anfragen eingegangen sind. Der Schluss, dass dies die gefährlichsten Sekten seien, scheint nahe zu liegen, auch wenn dies vielleicht nur darauf zurückzuführen ist, dass die Gruppe neu ist und einen Informationsbedarf auslöst.
Es ist nützlich, diese unterschiedlichen Beurteilungskriterien zu kennen und sich klar zu machen, wo ich selbst stehe. Dann setze ich mich nicht nur kritisch mit einer fraglichen Gruppe oder Organisation auseinander, sondern auch mit dem Sektenkenner bzw. seiner Kritik. Das ist unumgänglich, wenn ich mir ein möglichst objektives Bild der „Sekte“ machen will.
Literatur
Oswald Eggenberger: „Die Kirchen, Sondergruppen und religiösen Vereinigungen“, TVZ
Eduard Gerber: „Sekten, Kirche und die Bibel im neuen Jahrtausend, S 45-52, 1999, ISBN 385654822X