Lange Zeit fühlte ich mich denen, die viel Aufwand um ihr äusseres Erscheinungsbild betrieben, überlegen. Ich trug kein Make-up, liess mir nur selten die Haare schneiden und betrachtete meine Garderobe im Blick auf das geistliche und intellektuelle Leben, das ich anstrebte, als einen unwichtigen Faktor. Doch dann entdeckte ich, dass die Bibel eine weitaus offenere und vielfältigere Ansicht über Schönheit vertritt.
Die Leute denken oft, dass Stolz und Demut einfach Gegensätze sind; je weniger Stolz man besitzt, desto demütiger ist man. Doch dabei werden echte Demut und eine falsche Scham nicht selten miteinander verwechselt. Ich denke, dass Stolz und diese Scham in Wahrheit zwei Seiten derselben Medaille sind. Die meisten von uns schaukeln die meiste Zeit zwischen Stolz und Scham hin und her: Heute erhebe ich mich über andere und schon morgen hasse ich meinen Körper. In beiden Fällen hin ich von einem Kampf um Selbstachtung gefesselt. Wahre Demut aber kommt erst dann in mein Leben, wenn ich von der Schaukel abspringe.
Nach Gottes Bild
Mir wurde klar, dass Schönheit abzulehnen ein genau so grosser Fehler sein kann, wie ihr übermässig zu huldigen. Manche Dualisten behaupten, dass während unsere Seele in Gottes Ebenbild geschaffen sei, unser Körper eine unwichtige Ablenkung darstelle. Doch meiner Meinung nach meint die Bibel etwas anderes, wenn sie sagt, dass die Menschen nach Gottes Ebenbild geschaffen wurden. Menschliche Personen, nicht bloss Geistwesen, spiegeln Gottes Ebenbildlichkeit. Und es kann angenommen werden, dass bevor Krankheit, Alter und Tod die menschlichen Gene beschädigten, die ersten beiden Menschen die Art von makellosen Körpern besassen, zu denen wir uns instinktiv hingezogen fühlen. Wir wissen, dass wir eigentlich darauf angelegt waren, gesund zu sein, voller Leben zu erstrahlen, frei von den Spuren des Stresses, und so reiben wir uns an den körperlichen Zeichen unseres Gefallenseins.
Freude am Schönen
Das Buch Hohelied in der Bibel bestätigt diese Sehnsucht nach Schönheit. Mit den Augen eines Geliebten beschreibt der Dichter seine Braut: ihre Haare, Zähne, Augen, Wangen, Lippen, ihren Hals und ihre Brüste. Selbst wenn wir uns das Hohelied bildhaft zurechtbiegen, stellt sich die Frage: Warum sollte Gott seine Braut mit solch direkten körperlichen und erotischen Ausdrücken beschreiben, wenn er sich nicht an der körperlichen Schönheit seiner Schöpfung freuen würde? Gott hat uns dazu geschaffen, so schön wie diese Braut zu sein.
Das Lesen des Hoheliedes erweckte in mir eine Sehnsucht, die ich für lange Zeit hatte abtöten wollen: Die Sehnsucht, gesehen zu werden, als schön empfunden zu werden, ohne ausgenutzt zu werden. Ich glaube, dass das eine gottgegebene Sehnsucht ist, mit der alle Menschen geboren werden, verwandt mit der Sehnsucht, geliebt zu werden.
Komplimente annehmen
Wenn eine meiner Mitarbeiterinnen, bevor wir einen Raum voller Fremder betraten, mir zuflüstert: «Du siehst grossartig aus!», dann bedeutete das: «Ich bin auf deiner Seite. Ich liebe dich.» Ihre Worte nährten die Demut und die Dankbarkeit in mir, nicht den Stolz. Sie war dem Gebot «Einer achte den anderen höher als sich selbst» (Die Bibel, Römer, Kapitel 12, Vers 10) gefolgt. Ich lernte auch, schlichte Komplimente von Männern anzunehmen, die sich als treue Freunde erwiesen hatten.
Ich glaube, wir leben im Irrtum, wenn wir zwischen äusserer und innerer Schönheit eine zu starke Trennlinie ziehen. Die äussere Schönheit ist der Teil, der die innere für andere verfügbar macht, und genauso beeinflusst die Art und Weise, wie wir auf das Äusserliche eines Menschen reagieren, sein Innenleben. Eltern tragen Fotos ihrer Kinder bei sich, weil sie ihre Gesichter genauso lieben wie ihre Seelen. Geliebt zu sein und im Gegenzug Liebe zurückzugeben, veränderte mein Gesicht und meinen Körper genauso wie mein Herz.
«Du bist meine Ehre»
Schönheit spielt eine Rolle. Eine Studie zeigt, dass in Deutschland nahezu jeder Zweite mit seinem Körper unzufrieden ist. Vor 25 Jahren war es nur jeder Vierte. Diese Menschen brauchen niemanden, der ihnen sagt, sie seien eitel. Sie müssen geliebt werden mit ihrem Körper und ihrer Seele, bis sie in den Spiegel blicken können und Gottes Ebenbild darin erkennen.
Unsere Welt ist voller Menschen, die wegen ihres Aussehens abgewertet werden, und wenn wir sie so behandeln, dass sie spüren, dass ihr Schmerz darüber ernst genommen wird, vermitteln wir ihnen Wert. Ich hin froh, dass ich einen Gott habe, der mir immer wieder sagt. «Du bist meine Ehre!» – manchmal durch die Worte eines Freundes. Und ich werde nicht müde, sie zu hören.