Wer die Bibel ernst nimmt, kann auch in der Schweiz im Gefängnis landen. Für den Autor Hanspeter Jecker war das ein Schlüsselerlebnis und Anlass, auf die Geschichte der Täuferbewegung zurückzublicken.
Mitte der 1970er-Jahre habe ich den Militärdienst verweigert und wurde deswegen zu 6 Monaten Gefängnis verurteilt. Als ich meine Strafe antrat und als junger Student etwas Literatur in meine Zelle mitnehmen wollte, wurde mir dies verweigert. Das einzige Buch, das ich mitbringen dürfe, sei die Bibel. Höchst erstaunt sagte ich zum Aufseher, dass es mich sehr überrasche, dass just dasjenige Buch, das mich überhaupt erst ins Gefängnis gebracht habe, das einzige sein solle, das hier erlaubt sei. Unwirsch hiess mich der Beamte, den Mund zu halten ...
Diese Episode zeigt, wie in der Öffentlichkeit Bibel und christlicher Glaube bis in die jüngste Gegenwart als «harmlos» eingestuft werden. Der Bibel wird zwar durchaus zugetraut, Straftäter und Kriminelle in Gefängnissen wieder auf den «guten Weg» zurück zu bringen. Hingegen sieht man im Bibelwort offenbar kaum das Potenzial, aus angepassten Zeitgenossen Menschen zu machen, die aufgrund ihres Glaubens auch bei uns bisweilen in Konflikt mit dem Gesetz kommen könnten.
Gegen das Zähmen der christlichen Botschaft
Dass dies so ist, hat etwas mit der Geschichte der christlichen Kirchen zu tun. Über Jahrhunderte hinweg gingen die Kirchen enge Allianzen mit den politischen, wirtschaftlichen und militärischen Mächten und Gewalten ein und verloren so viel von ihrer Glaubwürdigkeit. Statt die eigene Praxis des Glaubens kontinuierlich an der Botschaft des Evangeliums auszurichten, passte man die kirchliche Lehre an. Dort, wo es den Interessen der Mächtigen diente, wurde die Bibel zum Disziplinierungsmittel für die Bevölkerung. Und dort, wo das Gotteswort hätte stören können, weil es zu Umkehr und Veränderung gerufen hätte, wurde es oft umgedeutet, entschärft oder verboten.
Quer durch die Geschichte gab es aber immer wieder kirchliche Gruppierungen, die Alternativen entdeckt und gelebt haben – trotz Ablehnung und Repression. Eine davon ist das Täufertum. Für manche waren diese «Wider-töüffer» fromme Spinner, für die offizielle Kirche waren es gefährliche Ketzer, für die Obrigkeiten aufrührerische Rebellen. Sie weigerten sich, Säuglinge zu taufen, Eide zu schwören und Kriegsdienst zu leisten. Europaweit wurden sie deswegen diskriminiert und verfolgt, inhaftiert und gefoltert, enterbt und enteignet, ausgeschafft und hingerichtet. Und nirgends so lange wie in der Schweiz. Eine Minderheit jedoch achtete die Täufer als Menschen, die mit Ernst Christen sein wollten, und schätzte sie als Nachbarn, auf die man sich verlassen konnte, weil sie das zu leben versuchten, was sie glaubten.
Eine radikale Reformation
Die Anfänge der Täuferbewegung liegen in der Reformationszeit im 16. Jahrhundert. Anders als das mit Zwang durchgesetzte Modell der Volkskirche schwebte den Täufern eine auf freiwilliger Mitgliedschaft basierende, obrigkeitsunabhängige Gemeinde vor. 1525 begannen ehemalige Mitarbeiter Zwinglis in Zürich mit der Taufe von Erwachsenen, welche auf diese Weise freiwillig ihren Glauben bezeugten. Etwa gleichzeitig entstanden auch andernorts in Europa ähnliche Bewegungen.
Durch ihre Kritik an einer in ihren Augen unheilvollen Allianz von Kirche und Obrigkeit zogen die Täufer bald den Zorn der Mächtigen auf sich. Trotz rasch einsetzender Verfolgung verbreitete sich die nach einem ihrer Leiter, dem Niederländer Menno Simons (1496–1561), zunehmend auch als Mennoniten bezeichnete Bewegung vorerst rasch quer durch Europa.
Systematische Repression trieb das Täufertum aber immer mehr in die Isolation und merzte die Bewegung in der Schweiz bis 1700 fast völlig aus. Nur im Bernbiet konnten sich die Mennoniten trotz Diskriminierung ohne Unterbruch bis in die Gegenwart halten. Spuren täuferischen Glaubens mit schweizerischen Wurzeln ziehen sich aber via Auswanderung und Flucht unter anderem in den Jura, ins Elsass, in die Pfalz und nach Nordamerika, wo heute Hunderttausende von Nachfahren der damaligen Emigranten leben.
Das Böse friedlich überwinden
Wenn es einen Punkt gibt, bei dem die Täufer bis in die Gegenwart immer wieder in Konflikt mit Staat und Gesellschaft gerieten, dann war es ihre Überzeugung, dass das Gotteswort bisweilen recht andere Dinge von den Gläubigen verlange als das, was Obrigkeit und Zeitgeist forderten. Deshalb nahmen sie für sich im Falle eines Gewissenskonfliktes in Anspruch, notfalls «Gott mehr zu gehorchen als den Menschen». Dieser Bibelvers – aus Sicht der Mächtigen oft eine faule Ausrede von notorischen Querulanten und ein willkommener Freipass für Anarchisten – war für die Täufer ein Aufruf, zu ihrem Glauben zu stehen – koste es, was es wolle.
Stein des Anstosses war dabei vor allem ein Bereich, wo die meisten Täufer nicht bereit waren, ihren Obrigkeiten Gefolgschaft zu leisten: in der Frage der Gewaltanwendung und des Kriegsdienstes. Nach der theologischen Vielfalt der Anfänge und den Turbulenzen rund um das «Täuferreich zu Münster» von 1535 fand das Täufertum in diesem Punkt bald zu grosser Einmütigkeit: Wo jahrhundertelang «christliche Nationen» im Namen des angeblich gleichen Gottes ihre Armeen aufeinander losmarschieren und den Gegner mit zuvor gesegneten Waffen abschlachten liessen, da wollten die Täufer lieber selber leiden, als anderen Leid zuzufügen. Praktizierte Feindesliebe hatte mitunter allerdings ihren Preis.
Ausgangspunkt für die Täufer war die Erinnerung an einen Gott, der in Jesus lieber sich selbst seinen Gegnern dahingab, als diese mit Macht und Gewalt zu vernichten. Feindesliebe, Versöhnung und Gewaltverzicht galt ihnen darum nicht als neue Gesetzlichkeit, sondern als zentrales Wesensmerkmal Gottes und seines Volkes.
Wegleitend war ihnen das Bibelwort, dass wahre Jesus-Nachfolger Böses nicht mit Bösem vergelten, sondern – in den Fuss-Spuren ihres Meisters – durch Gutes überwinden sollten (Die Bibel, Römerbrief, Kapitel 12). Dieses Leitmotiv beinhaltet ein Nein und ein Ja. Das Nein in der Militärfrage trieb bis weit ins 19. Jahrhundert manche Täuferfamilie zur Auswanderung. Das Ja liess täuferische Gemeinschaften immer wieder zu ungewohnten und neuartigen Formen geschwisterlicher Solidarität finden – etwa durch eine systematische Fürsorge für die Armen und Kranken innerhalb der eigenen Gemeinden und – im Sinne von «Suchet der Stadt Bestes» (Die Bibel, Jeremia, Kapitel 29) – auch darüber hinaus. Hier sind bisweilen innovative Modelle entstanden, welche beeindruckten und später von andern kopiert wurden.
Gelebte Güte und Vergebung
Mit ihrer Überzeugung, dass Friede und Versöhnung, Feindesliebe und Gewaltverzicht zentral seien, blieben die Täufer allerdings bis in die Gegenwart eine kleine Minderheit innerhalb der Christenheit. Hingegen hat der Ökumenische Rat der Kirchen – nicht zuletzt aufgrund von Impulsen aus Mennonitengemeinden – die derzeit laufende «Dekade zur Überwindung der Gewalt» ausgerufen. Nur: Auch «Historische Friedenskirchen» wie die Täufergemeinden selbst sind mittlerweile oft ängstlich, angepasst und stumm geworden. Gleichwohl liegt in ihrer theologischen Tradition bis in die Gegenwart ein Schatz, den zu entdecken und fruchtbar zu machen sich lohnt.
In diesem Sinne gilt es also miteinander neu zu fragen, was es – jenseits von frommer Besserwisserei und arroganter Rechthaberei – heute heissen könnte, in Sanftmut und selbstkritischer Bescheidenheit, aber mit Mut und Zivilcourage «Böses nicht mit Bösem zu vergelten, sondern durch Gutes zu überwinden». Und zwar sowohl im privaten und lokalen Bereich, wie auch national und global. Nicht primär, «weil wir es uns wert sind», sondern weil wir Wertgeschätzte Gottes sind, die mit andern teilen möchten, was für uns Grundlage des Lebens geworden ist: Gottes Güte und Vergebung.