„Obwohl es mir familiär und beruflich wirklich gut geht, fühle mich oft unsicher. Sobald jemand irgendwie sauer ist, fühle ich mich angegriffen und abgelehnt. Ich schäme mich, weil ich durch meine Selbstwertprobleme meinen Mitmenschen nicht die Wertschätzung gebe, die sie von mir erwarten könnten. Könnte das etwas mit der Beziehung zu meinen Eltern zu tun haben? Mein Vater war abwesend, meine Mutter überfordert. Wir haben nie einen gesunden Abstand gefunden. Noch heute habe ich den Eindruck, dass sie mich durch ihre Bedürftigkeit beherrscht.“
Zunächst sollten Sie wissen: Minderwertigkeitsgefühle zu haben, ist etwas, was jeder Mensch kennt. Niemand ist sich seines Wertes völlig sicher. Nur Jesus konnte sich in seinem Handeln von der Angst, abgelehnt zu werden, völlig frei machen.
Diese Unsicherheiten haben – wie Sie ganz richtig vermuten – oft damit etwas zu tun, dass wir zu Anfang unseres Lebens das Geliebtsein seitens unserer Eltern in Frage stellen mussten. Diese Zweifel beeinträchtigen dann unsere Unbeschwertheit. Solche Schatten sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich tief, aber für niemanden ist alles nur „sonnig“.
So hat die Beziehung zu unseren Wurzeln tatsächlich eine Schlüsselfunktion für die Frage, wie wir uns selbst sehen. Wenn unsere Eltern verachtet werden müssten, wären wir auch nicht akzeptabel. Denn wir sind nun einmal genau dieser Mensch mit diesem Vater und dieser Mutter. Dass Sie den Mut aufbringen, nach der Wurzel des Problems zu fragen, ist etwas sehr Wertvolles. Damit kommt etwas in Bewegung und wird sich – nach dem Willen Gottes – zum Guten verändern.
Gott hat in der Bibel in den Zehn Geboten die Aufforderung, unsere Eltern zu ehren, durch eine besondere Zusage herausgehoben*. Und das muss allen Menschen möglich sein – nicht nur jenen mit Vorzeigeeltern (falls es so etwas überhaupt gibt). Drei Schritte seien hervorgehoben:
Anerkennen, statt beurteilen
Wenn wir anfangen, unsere Eltern zu zensieren, bleiben wir allzu schnell an den Defiziten hängen. Solche Bewertungen vorzunehmen, bringt uns oft nicht weiter. Stattdessen sollten wir unseren Eltern einen sicheren Platz in unserem Herzen zugestehen. Dafür können wir auf ihre Bedeutung für unser Leben schauen.
Wenn Ihnen das nächste Mal etwas gelungen ist und Sie sich an irgendetwas erfreuen können, gehen Sie dem Gedanken nach: Dass das möglich ist, habe ich auch meinen Eltern zu verdanken. Denn sie haben mir in Gottes Auftrag das Leben geschenkt.
Den Eltern zuzutrauen, dass sie ihr Leben meistern
Eine weitere Falle besteht darin, die Lasten der Eltern auf die eigenen Schultern zu legen. Dann fällt es uns schwer zu unterscheiden, welche Verantwortung die Eltern für ihr Leben selbst zu übernehmen haben und worin wir sie unterstützen können. Wir sind nicht für das Glück unserer Eltern verantwortlich und können für sie nicht nachholen, was ihnen selbst nicht gelungen ist. Wir haben den Eltern auch zuzutrauen, das Schwere in ihrem Leben zu tragen.
Wenn Ihnen Ihre Mutter bedürftig entgegentritt, können Sie denken: „Ich bin nur dein Kind und traue dir zu, auch das Leidvolle deines Lebens zu bewältigen.“ Mit dieser Haltung können Sie Ihrer Mutter praktisch helfen, ohne ihr gegenüber die Grössere und Stärkere zu sein.
Auf Abstand zu gehen
Man kann sich nur gut nahe kommen, wenn man einen gesunden Abstand hat. Den gewinnen wir gegenüber unseren Eltern, wenn wir auf eigenen Beinen stehen und als Erwachsene selbst die Verantwortung für unser Leben übernehmen. Sie können es ausprobieren, Ihrer Mutter freundlich und bestimmt zu sagen: „Du kannst deine Meinung haben und auch äussern. Doch ich werde tun, was ich für richtig halte.“ Gerade diese Abgrenzung gehört auch zum Ehren der Eltern.
Sich mit den eigenen Wurzeln zu versöhnen ist wohl emotional die schwerste aller Aufgaben. Aber jeder noch so kleine Schritt lohnt sich. Wo immer Sie für die einzelnen Versöhnungsschritte Unterstützung von Menschen bekommen können, denen Sie vertrauen, sollten Sie diese nutzen.
Tipps zum Weiterdenken
Während Sie die folgenden Aussagen lesen, beobachten Sie, inwieweit Sie Ihnen zustimmen können. Die Punkte, an denen Sie sich reiben, verdienen ganz besonders Ihre Aufmerksamkeit:
- Gott hat jedem Menschen die Hoffnung mitgegeben, dass es mit der nachfolgenden Generation gut weitergeht. Allen Eltern ist der Wunsch ins Herz gelegt, ihre Kinder lieben zu können.
- Trotz aller Einschränkungen reicht es, was ich zum Leben mitbekommen habe.
- Meine Eltern haben mir alles gegeben, was sie geben konnten – auch wenn es uns aus verständlichen Gründen zu wenig erscheint.
- Wenn die Enttäuschung und die Wut über manche negative Erfahrungen in mir ihren Platz haben durfte, kann sie der Trauer Platz machen. Dann kann ich mich auf Weg machen, auf die Liebe hinter all dem Schmerzvollem zu schauen.
* «Ehre deinen Vater und deine Mutter, dann wirst du lange in dem Land leben, das ich, der Herr, dein Gott, dir gebe.» (Die Bibel, 2.Mose, Kapitel 20, Vers 12)