Geistlicher Missbrauch kommt in vielen Kirchen und Werken vor- das beweisen zahlreiche Berichte von Betroffenen. Doch offiziell wird das heikle Thema kaum angesprochen. Wie kann man geistlichen Missbrauch erkennen? Und wie soll man darauf reagieren?
Geistlicher Missbrauch ist eine Form von emotionalem oder seelischem Missbrauch in der Tarnjacke von frommen Sprüchen und religiösen Verhaltensweisen. Dabei wird meist das Wort Gottes auf eine Weise gebeugt und manipuliert, dass es Opfer ohnmächtig werden lässt. Eine gefährliche Form von Manipulation. Leider kommt geistlicher Missbrauch häufiger vor, als bisher angenommen. Und vor allem: Er vergiftet den Glauben und führt zu falschen Gottesbildern.
Von einem Ältesten belogen worden
Jens Baumgartner* kann heute frei über geistlichen Missbrauch sprechen. Es gab aber Zeiten, in denen es ihm schwer fiel. Vor einigen Jahren wurde ihm in seiner Gemeinde vorgeworfen, eine Irrlehre zu verbreiten und allzu charismatisch vorzugehen. Baumgartner war wie vor den Kopf gestossen. Beim zweiten Meeting wurde von ihm verlangt, zurückzutreten. Es kam zu Diskussionen und Auseinandersetzungen. Baumgartner sprach schliesslich mit Freunden von einer grossen deutschen Bibelschule. Niemand hatte den Mut, etwas zu unternehmen. Ein Freund sagte ihm: «Ich will mir die Hände nicht schmutzig machen.» Baumgartner trat schliesslich zurück, während in der Gemeinde niemand wusste, weshalb.
Einige Monate später kam ein Ältestenmitglied zu Baumgartner nach Hause und entschuldigte sich für sein Verhalten. Er sei eifersüchtig gewesen auf Baumgartners Fähigkeiten und die Angriffe auf Baumgartner wären ihm gerade recht gewesen.
Als das Ältestenmitglied später zur Rede gestellt wurde, leugnete der Mann seinen Besuch bei Baumgartner vor den Ratsmitgliedern um nicht als «Nestbeschmutzer» dazustehen. Baumgartner fand ausserdem heraus, dass seine Freunde, die ihm damals nicht geholfen hatten, selber in einen geistlichen Missbrauch verwickelt waren.
Geistlichen Missbrauch erkennen
Wie kann geistlicher Missbrauch rechtzeitig erkannt werden? Es gibt einen Schutz: Ein selbständiges, kritisches Denken und eine gesunde Distanz zur Kirche wird helfen, Schwächen in den Strukturen zu erkennen und sie sachlich und klar zu platzieren.
Wie erkenne ich geistlichen Missbrauch?
Reglementierung des Umgangs mit Andersdenkenden (lass dich nicht mit Nichtgläubigen ein)
Manche Sünden wiegen schwerer als andere (z.B. Ehebruch oder Homosexualität ist schlimmer als Lügen)
Einseitige Gesetzlichkeit (du hast nicht genug Glauben, deshalb wirst du nicht geheilt)
Leiter werden grundsätzlich nicht kritisiert und sachliche Kritik wird von nahen Mitarbeitern «abgefangen» oder unterbunden
Loyalität gegenüber den Leitern geht über die Wahrheit
Leiter entscheiden über Richtig und Falsch, mischen sich in persönliche Angelegenheiten ein und versuchen, Mitgliedern «den richtigen Weg» zu weisen
Kritik wird mit den Worten «Du schadest dem Reich Gottes und der Kirche» abgetan
Seelsorgegeheimnis wird gebrochen, wenn es um sogenannte «schwere Sünden» geht, da sie in Gemeinden nicht geduldet werden
Gleichschaltung und schleichender Verlust der Selbstbestimmung
Stete Hinweise auf Dämonen und Angriffe von aussen
Geistlichem Missbrauch ausweichen
Als Sandra Frei* in der religiöse Gruppierung M 28 beitrat, litt sie immer wieder unter starken Migräneanfällen. Darauf wurde sie von einem Mitglied der Gruppe Frau S. angesprochen, die eine starke Dämonisierung bei Sandra Frei «deutete» und eine Befreiung machen wollte. Frau S. war weder ausgebildete Theologin, Psychologin oder Seelsorgerin und hatte sich selber zur Heilerin ernannt. Sandra Frei sagte aus Verzweiflung zu und die Austreibung machte mehr in ihrer Seele kaputt, als sie anfangs angenommen hatte. Später wurde ihr und ihrem Mann in der Kirche vorgeworfen, sie hätten ihr Kind getötet, weil er sich hatte unterbinden lassen. Dann sagte man ihnen, wenn sie nur genügend beten, könnten sie trotzdem Kinder haben. Die Behauptungen und angeblichen Prophezeiungen von Frau S. wurden dermassen grotesk, dass Sandra Frei mit der Zeit dachte, trotzdem schwanger werden zu können. Als sie dann ihre Periode bekam, nahm sie in einem Anfall von Reue und Angst an, sie habe das Kind verloren, weil sie nicht genug gebetet habe.
Mit der Zeit wurde ihr von Frau S. nachgetragen, sie und ihr Mann seien dämonisiert. Diese Vorwürfe führten so weit, dass Sandra Frei einen Nervenzusammenbruch erlitt und sich gemeinsam mit ihrem Mann von der Gruppierung trennte. Lange Zeit war Sandra Frei psychisch und seelisch ein Wrack und konnte weder beten noch mit Gott sprechen.
Wie kann man geistlichem Missbrauch ausweichen?
Auf die innere Stimme hören und Eindrücke «da stimmt was nicht» nicht unterdrücken
Sich von Menschen klar distanzieren, die einen stetig «Gottes» Ratschläge erteilen und ins Leben «hineinsprechen» wollen
Den ganz persönlichen Draht zu Gott pflegen, damit man für die Gemeinschaft gestärkt ist
Hinweise auf «Dämonen» und andere schwerwiegende Vorwürfe bestimmt abweisen
Sich bei Unsicherheit einer Vertrauensperson ausserhalb der Kirche anvertrauen
Soziales Netzwerk nicht nur auf Gemeinde beschränken, sondern ausbauen
Bewusstsein für Manipulationen (Punkte oben) sensibilisieren – nicht alles ist gut, was fromm daherkommt
In schwierigen Situationen ist die Trennung von der Gemeinschaft die beste Lösung
Geistlicher Missbrauch ist genauso ernst zu nehmen wie sexueller Missbrauch und geschieht in Kirchen, religiösen Werken und sogar Familien. Wichtig dabei ist, dass Mitglieder, die geistlichen Missbrauch betreiben, dafür geahndet werden und Opfer ernst genommen werden. Das bedeutet aber, dass geistlicher Missbrauch offengelegt werden muss. Manchmal ein schwieriges Unterfangen, aber möglich. Die schwerwiegenden Folgen von geistlichem Missbrauch sind Grund genug, das Thema aus der Tabuzone zu bringen.