Hebamme Marianne Grädel:

«Viele Eltern spüren genau, was zu tun ist»

Seit 30 Jahren ist Marianne Grädel als Hebamme tätig. Vom Blaukreuz-Verlag wurde sie angefragt, ein Buch zu schreiben. Das tat sie. Ihr Buch «Zuwendung» ist kein Ratgeber, gibt aber durch die Vielfalt der beschriebenen Erfahrungen mit Eltern und ihren Neugeborenen trotzdem Orientierung.

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Marianne Grädel
Schon in der Einleitung wird klar, dass Marianne Grädels Buch nicht die 10 goldenen Regeln für die erfolgreiche Kinderziehung auftischen will. Vielmehr lässt die Autorin Erfahrungen von Eltern sprechen, denn sie seien die eigentlichen Experten. Das Buch soll ein Ausdruck des Respekts sein für Eltern, ihre Kinder und ihr Umfeld, schreibt die Hebamme in der Einleitung. Sie wolle schildern, «wie täglich, oft im Verborgenen, Bemerkenswertes und Wunderbares geleistet wird».

Viele Eltern würden von Ratschlägen der Fachleute fast erschlagen, bedauert Marianne Grädel. Vieles davon sei gar nicht nötig. «Am besten kommt es meist dort, wo sich Eltern auf ihren Instinkt, ihre Gefühle verlassen und wir Fachleute uns zurücknehmen. Viele Eltern spüren genau, was zu tun ist.» Besser sei, die Eltern zu ermutigen, ihren eigenen Weg zu gehen.

Wie Vater im Himmel: Kinder nah an sich ranlassen

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Der Buchtitel «Zuwendung» lässt die zentrale Aussage, die aus der 30-jährigen Berufserfahrung von Marianne Grädel gewachsen ist, erahnen: Es ist die Liebe, die Zuneigung für das kleine Geschöpf, das auf eine gesunde Bindung zu seiner Mutter und seinem Vater angewiesen ist. «Dieses Verlangen ist in uns angelegt», sagt die 51-jährige Burgdorferin. «Schon Gott, der himmlische Vater, sagt zu uns: 'Kommt her zu mir!' Uns geht es am besten, wenn wir nahe am Vaterherz sein können. Und so geht es auch den Kindern am besten, wenn sie nahe am Herz der Eltern sein können.»

Deshalb schwingt im 170-seitigen Buch auch immer der Wunsch der Autorin mit, Nähe zum Kind zuzulassen. Die Eltern-Kind-Bindung sei entscheidend für das Selbstwertgefühl und die spätere Widerstandskraft (Resilienz) eines Menschen. Zudem sei ein Kind, das den Eltern vertraut, auch lenkbar und damit erziehbar.

Buch räumt mit einigen «Baby-Mythen» auf

Gänzlich ohne fachfraulichen Rat kommt das Buch «Zuwendung» doch nicht aus. So kann es Marianne Grädel nicht verkneifen, mit einigen «Baby-Mythen» aufzuräumen. Ein Mythos besagt zum Beispiel, ein Baby sollte nicht verwöhnt werden. Lieber lasse man es etwas weinen. Es müsse schliesslich lernen, alleine zu sein und man könne ihm nicht immer seinen Willen lassen, wenn es schreie.

Mit diesem Ansatz kann Marianne Grädel nichts anfangen. Sie habe beobachtet, dass gute Eltern-Kind-Bindungen dort entstünden, wo rasch auf legitime Bedürfnisse des Kindes wie Nahrung, Nähe, Sicherheit und Entspannung eingegangen werde. In dem Sinn könne ein Baby gar nicht verwöhnt werden. Sie dokumentiert dies mit einigen Erfahrungsberichten. Eine Mutter, die ein sensibles Baby hatte, das oft weinte, entschied sich (entgegen den Ratschlägen ihres Umfelds) dafür, ihren Jungen nicht allein zu lassen. Sie erkannte zusammen mit ihrem Mann, dass Frustration und langes verzweifeltes Weinen die Probleme und Ängste des Kleinen nur noch verstärkten und ihn hemmten, aktiv die Beziehung zu ihnen aufzunehmen. Als sie ihn annahmen, wie er war und ihm gaben, was er brauchte, konnte er sich endlich entspannen und entwickeln.

Die erste Beziehung legt die Weichen fürs Leben

Ein Kleinkind, das verhätschelt werde, könne später nicht selbständig werden, hört Marianne Grädel oft. Sie vermutet jedoch, dass genau das Gegenteil wahr ist: «Im Leben selbständig zu sein bedeutet, beziehungsfähig zu sein. Wenn ein Mensch die erste Beziehung im Leben als vertraut erlebt, wird er sich auch später jemandem anvertrauen können. Das führt nicht zu einer Verweichlichung der Kinder, sondern zu einem gesunden Selbstwertgefühl, das es erlauben wird, menschliche Beziehungen zu gestalten und eigene Schritte zu gehen.

Diese Zuwendung, die Marianne Grädel dem Leser mit vielen lebensbejahenden Geschichten nahe bringt, hat nichts mit passivem «Laisser-faire» in der Erziehung zu tun. Auch sie macht klar, dass ab einem gewissen Alter die Leitplanken gesetzt werden müssen, damit übertriebene Bedürfnisse wie das Schoggistängeli oder das Spielzeugauto nicht immer erfüllt werden. Doch Grundlage sei auch da, ob ab der Geburt ein Vertrauensverhältnis, eine gesunde Eltern-Kind-Bindung aufgebaut wurde. Diese ermögliche, dass ein Kind die Leitplanken der Eltern respektiere.

Webseite:
Hebamme Marianne Grädel
Buchbestellung «Zuwendung»

Zum Thema:
Dossier: Eltern sein
Erziehung: Kann man Kinder zum Glauben erziehen?
Faire Regeln: Sind Sie ein Vorbild?
Bindungsforscherin: Wie Kinder stark werden

Datum: 16.09.2014
Autor: Florian Wüthrich
Quelle: Livenet

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