Genügsamkeit und Armut als geistliche Kraft

"Vereinfachen - beschränken - verzichten" - das ist mehr als ein Motto für einfältige Asketen. Christen aller Zeiten haben gewusst, dass mit diesen Haltungen ein ungeahnter Reichtum verbunden ist, den es auch in der heutigen Zeit zu erfahren gilt. Im folgenden einige biblische und psychologische Überlegungen dazu.

In der alten Kirche sprach man von acht Lastern: Völlerei, Unzucht, Habgier, Zorn, Trübsinn, Trägheit, Ruhmsucht, Hochmut - und entsprechend auch von acht Tugenden: massvolles Geniessen (Verzichten), Keuschheit, Armut (Genügsamkeit), Sanftmut (Besonnenheit), Heiterkeit, Muthaftigkeit (Enthusiasmus), Gehorsam (Bescheidenheit) und Demut. Damit sind auch heute noch die wichtigsten Gefährdungen angesprochen, durch die der Mensch Lebensqualität und Heil verlieren kann.

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Armut in Ecuador
Ohne Mass

Für die Thematik der "Zuvielisation" sind Völlerei und Habsucht von besonderer Bedeutung. Beide sind Ausdruck von Masslosigkeit. Es ist masslos, dass der Reichtum von weltweit 358 Milliardären das Gesamteinkommen derjenigen Länder übersteigt, in denen fast die Hälfte der Weltbevölkerung lebt,.
Es gibt aber auch kleine Masslosigkeiten wie etwa die Lesesucht. Oder schauen wir so viel Fernsehen, dass unser eheliches Gespräch zu kurz kommt? Man kann freiwillig masslos arbeiten. Bis in Einzelheiten das gute Mass finden, das ist ein lebenslanger Lernprozess!

Habsucht und ihre Wurzeln ...

Die Wurzel der Habsucht ist die Angst, zu kurz zu kommen: man glaubt, weniger als andere zu haben. In der Tiefe ist es die Angst vor der Vergänglichkeit, sagten die "Therapeuten" der alten Kirche. Aus dieser Angst heraus sichert man sich ab. Man möchte nie Mangel erleben und auf andere Menschen und ihre Hilfe angewiesen sein. Letztlich möchte man es vermeiden, dass man existentiell Gott vertrauen muss.
Der Habgierige ist dauernd auf Trab, er muss seinen Besitz mehren und das sichern, was er schon hat.
Eine zweite Wurzel der Habsucht ist heute die fast totale Lustorientierung. Das einzige Lebensziel heisst Lust erleben. Paulus zitiert einen Spruch griechischer Zeitgenossen, wenn er schreibt: "Lasset uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot" (1. Korinther 15,32). Er meint damit: Wenn es keine Auferstehung gibt, dann ist dieses Denken sehr verständlich. Wer keinen tieferen Lebenssinn kennt, der wird lustorientiert. Und je mehr ich besitze, desto mehr Lust kann ich mir verschaffen. Diese Logik führt zur Habsucht.
An dieser Stelle zeigt sich die Spannung zwischen sinnvoller Vorsorge und ängstlichem Sorgen. Joseph sorgte in Aegypten vor für die dürren Jahre. Wenn Jesus in der Bergpredigt vom Besitz spricht, betont er: Sorget euch nicht (ängstlich) um euren Besitz. Sorgt euch für Gottes Sache, Gott sorgt schon für eure Sachen. Er bietet einen Sorgentausch an.

... und das Training dagegen

Weil das Sorgen aus Angst die Wurzel der Habsucht ist, kann Habgier nur durch tiefes Vertrauen überwunden werden. "Sehet die Vögel des Himmels, sie säen nicht und ernten nicht und sammeln nicht in Scheunen, und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr nicht viel mehr als sie?" (Matth 6,26). "Euer himmlischer Vater weiss, was ihr bedürft, ehe ihr ihn bittet" (Matth 6,8).
Wer vertrauen kann, kann sich genügen lassen. Wer in seinem Christenleben nie in einer existentiellen Notlage war und Gott vertrauen musste, ob es eine Lösung gibt, der ist zu bedauern. Denn er konnte sein Vertrauen zu wenig konkret einüben.
Wir können gewisse Dinge so einrichten, dass wir vertrauen müssen. Das ist Training gegen die Habsucht. So sind zum Beispiel die Väter des Diakonenhauses Nidelbad in Rüschlikon, Kanton Zürich, verfahren. Wenn sie auf dem Bauernhof arbeiteten und das Heu bei einem aufziehenden Gewitter noch draussen war, galt der Grundsatz: Zuerst dem Nachbarn helfen, sein Heu einzubringen, erst dann kommt unseres dran. Für ihr Krankenhaus galt bei Personalmangel die Frage: Wen können wir an eine Station abgeben, die noch mehr in Not ist als wir?
In den Vereinigten Bibelgruppen geben wir Jahr für Jahr 10 Prozent unserer Spenden-Eingänge an die internationale Arbeit unserer Dachorganisation IFES, der Iternational Fellowship of Evangelical Students, auch wenn wir selber ein grosses Defizit haben.

Die "evangelischen Räte"

Freiwillige Armut, also das Sich-Begnügen mit dem Lebensnotwendigen, ist eine Chance, um menschlich und geistlich zu wachsen. Darum haben die Mönche und Kommunitäten aller Jahrhunderte sich auf die drei "evangelischen Räte" verpflichtet. Sie heissen: Gehorsam, Armut und Ehelosigkeit. Man nennt sie evangelische Räte, weil sie dem Evangelium abgeleitet sind und ihm entsprechen.
Mit der Entscheidung zur Armut also können wir das Evangelium ganz konsequent leben. Freiwillige "Armut" heisst ja nicht hungern und frieren, sondern sich begnügen mit dem Notwendigen (1 Timotheus 6,8-10). Wir denken sofort: Armut, das ist nur etwas für Mönche und Nonnen, Bruderschaften und Schwesternschaften. Aber was bedeutet das Vorbild des armen Jesus und seine Lehre über Geld und Besitz in einem bürgerlichen Beruf als Vater und Mutter? Genau da liegt die Herausforderung. Welche Aspekte können wir auf welche Weise in einer bürgerlichen Situation leben?
Diese drei Verpflichtungen sind nicht nur für den Glauben, sondern auch für unser menschliches Reifen sehr bedeutsam. Der Psychoanalytiker Schutz-Hencke bezeichnete die Gelübde zu Gehorsam, Armut und Ehelosigkeit als eine Aufgabe, mit den Grundtrieben des Menschen umzugehen: Gehorsam für das Geltungsstreben, Armut für das Besitzstreben und Ehelosigkeit für das ungeordnete Sexualstreben. Eugen Drewermann ist der Meinung, dass, recht verstanden, die drei evangelischen Räte eine Antwort aus dem Glauben auf die Grundängste des Menschen sind.
Ich meine hier immer Armut als freie Entscheidung, nicht als Schicksal. Freiwillige Armut ordne ich der Genügsamkeit zu.

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Armut hat viele Gesichter
Loslassen als Gewinn

Wer genügsam sein will, der muss loslassen. Freiwillige Armut äussert sich deshalb im Loslassen: Loslassen von materiellem Besitz, von materieller Sicherheit und von ungeordnetem Besitzstreben.
Wozu loslassen? Nicht aus einem asketischen Ideal. Loslassen macht gemeinschaftsfähig. Wir lassen los, um mit andern Menschen in Not solidarisch zu werden. Vereinfachen, verzichten, um der Solidarität willen, mich und was ich habe mit andern teilen; aber auch loslassen um der eigenen Lebensqualität willen, weil das Viele Herz und Seele belastet. Armut meint nicht nur das Loslassen von materiellen Dingen, sondern auch von geistigem Besitz. Auch geistlich sollen wir unsere Erfahrungen mit andern teilen.
Im Tiefsten geht es darum, dass wir uns selber loslassen, denn wir selber stehen uns oft im Weg, so dass Gott uns nicht ganz durchdringen kann. Armut meint ein Freiwerden von sich selbst, sich selbst vergessen, um ganz auf Gott ausgerichtet zu sein, vor ihm niederzufallen und vor ihm zu schweigen, ganz nach den Leitsätzen: "Mich loslassen und in dein Herz fallen" (H. Rotzetter) oder "Nimm mich mir und gib mich ganz zu eigen dir" (Bruder Klaus).

Geistliche Armut

Vielleicht verstehen wir jetzt besser, was Jesus meinte, wenn er sagte: "Selig sind die geistlich Armen, denn das Reich ist ihrer" (Matth 5,3). Jesus selbst war zugleich materiell und geistlich arm. "Ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, dass er, obwohl er reich war, um euretwillen arm wurde, damit ihr durch seine Armut reich würdet" (2 Korinther 8,9). Paulus schreibt diesen Satz im Zusammenhang mit dem Spenden für die armen Christen in Jerusalem. Die Mazedonier sind Jesu Beispiel gefolgt, wie er waren sie bereit, arm zu werden zugunsten anderer.
Jesus selber bezeugt seine Armut so: Ein Schriftgelehrter, ein Mann also in angesehener Position und gesicherter Existenz, kommt zu ihm und sagt: "Ich will Dir nachfolgen." Jesus antwortet ihm: "Die Füchse haben Gruben und die Vögel haben Nester, aber der Menschensohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlegen kann" (Matth 8,20). Er sagt dem Mann in gesicherter Existenz: Willst Du meine völlige Heimat- und Schutzlosigkeit teilen?
Bei der Geburt Jesu ging es sehr ärmlich zu und her im Stall von Bethlehem. Als Säugling war Jesus ein Flüchtling. Jesu Vater arbeitete als Bauhandwerker. Am Ende seines Lebens raubte man Jesus auch noch die Kleider; Soldaten verteilten sie unter sich.
Und dieser Mann hat die Welt reich gemacht an Liebe und Sinn wie kein anderer.

Jesu Lehre über die Armut

In der Lehre Jesu hat das Thema "Umgang mit Besitz, Armut, Reichtum" ein Gewicht wie kaum ein anderes. Ich habe bisher in diesem Punkt die Lehre Jesu nicht ernst genug genommen und vermute, dass es auch anderen so geht, auch wenn wir uns bibeltreu nennen.
Nach dem Lukas-Evangelium tritt Jesus seine öffentliche Wirksamkeit in der Synagoge in Nazareth mit den Worten des Propheten Jesaja an: "Der Geist des Herrn ruht auf mir, weil er mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Armen frohe Botschaft zu bringen" (Lukas 4,18).
Dem reichen jungen Mann sagt Jesus: "Geh hin, verkaufe alles, was du hast und gib es den Armen, und du wirst einen Schatz im Himmel haben, und dann komm folge mir nach" (Markus 10,21).
Jesus sagte das nicht zu allen Menschen. Zum Beispiel nicht zu den Frauen, die ihn mit ihrem Vermögen unterstützt haben.
Dieses Wort hat in der Kirchengeschichte aber immer wieder einzelne Menschen ganz persönlich getroffen. Und sie begannen mit einem exemplarisch einfachen Lebensstil als Mahnmal für bürgerliche Christen.
Jesus schickte seine Jünger zu zweit aus und befahl ihnen, kein Geld mitzunehmen, auch keine Lebensmittel, nur die nötigste Kleidung. Sie mussten so schutzlos in die Dörfer gehen und das Evangelium verkündigen (Matth 10,9f). Die Boten des armen Jesus sollten nicht durch Besitz und Macht beeindrucken. Ihrer Botschaft entsprach die materielle und geistliche Armut. Dass Jesus ihnen betont sagen musste "Nehmt kein Geld mit" heisst, dass viele Geld besassen. Der ehemalige Zöllner Levi war reich. Nehmt freiwillig kein Geld mit, hiess: Werdet abhängig von Gott und Menschen.
Jesus hat in eindrücklichen Geschichten das Thema Arme und Reiche angeschnitten: etwa im "Grossen Gastmahl" (Lukas 24,21), in der Erzählung vom "reichen Mann und dem armen Lazarus" (Lukas 16,19-31) oder beim Gleichnis vom "reichen Kornbauern" (Lukas 12,13-21). Liebe und Vergebung helfen, loszulassen. Der Oberzöllner Zachäus sagte: "Siehe Herr, die Hälfte meines Besitzes gebe ich jetzt den Armen, und wenn ich von jemandem etwas erpresst habe, gebe ich es vierfach zurück" (Lukas 19,8).
Jesu Lehre fusst auf den Propheten Israels. Ihre Sozialkritik war klar und deutlich: "Die ihr den Unschuldigen um Geld verkauft und den Armen wegen eines Paars Schuhe." - "Die ihr die Geringen bedrückt und den Armen zermalmt" (Amos 2,6; 4,1). "Wie ein Korb voller Vögel, so sind ihre Häuser voll erlisteten Guts; darum sind sie gross geworden und reich" (Jeremia 5,27).

... wird aufgenommen

Die ersten Christen in Jerusalem folgten dem Beispiel und der Lehre Christi: "Es war auch kein Bedürftiger unter ihnen" (Apostelgeschichte 4,34). Sie lebten solidarisch und verkauften Grundstücke, und man teilte jedem aus, je nachdem, was einer nötig hatte.
Die Aussendungsrede Jesu von Matthäus 10 traf auch Franz von Assisi. Als in der Messe dieser Abschnitt gelesen wurde, hörte er darin seine Berufung, das Evangelium als freiwillig Armer zu verkündigen. Der Ohnmacht des Gekreuzigten entsprach die entwaffnende Ohnmacht seiner Armut. Angesichts von Reichtum, Prunk und Macht der Kirche des 13. Jahrhunderts war das ein prophetisches Zeichen.
Ich war befreundet mit dem verstorbenen Franziskaner Bruder Eugen Mederlet. In Rasa und andern Orten habe ich miterlebt, wie es ist, wenn man grundsätzlich ohne Geld leben will. Er hatte nie Geld bei sich. Das ist unerhört demütigend für eine solche Persönlichkeit. Er hat dies freudig auf sich genommen. Sein Vorbild Franz liebte die Armut, weil er Jesus liebte und als freiwillig Armer ihm ähnlicher sein konnte.

Verzichten und geniessen

Philippi war die einzige Gemeinde, von der Paulus sich unterstützen liess. Er hatte eine Gabe erhalten, dankte und schrieb dazu: "Nicht dass ich es Mangels halber sage; denn ich habe gelernt, in der Lage, in der ich bin, mir genügen zu lassen. Ich weiss in Niedrigkeit zu leben, ich weiss auch Überfluss zu haben: in alles und jedes bin ich eingeweiht, sowohl satt zu sein als zu hungern, sowohl Überfluss zu haben als auch Mangel zu leiden. Alles vermag ich durch den, der mich stark macht" (Phil 4,11-13).
Paulus lernte, ja zu sagen zum Mangel und zum Überfluss, mit beidem richtig umzugehen. Er wusste, dass er auch im Mangel nicht untergeht, weil Gott zu ihm steht. Er konnte im Vertrauen verzichten. Mangel war für ihn ein menschlicher Gewinn. Er wurde leidensfähig.
Er lernte aber auch, Überfluss zu haben und dabei nicht von Christus wegzugehen. Der Überfluss stellte sich nicht zwischen Gott und ihn - Paulus konnte damit umgehen, ihn in Dankbarkeit geniessen, teilen, den Überfluss für Gottes Sache fruchtbar werden lassen. Er wurde genussfähig.
Mangel und Überfluss sind zwei Gegensätze. Paulus hat beides gelernt: verzichten und geniessen. Nur wer beides kennt, kann beides echt. Wer nie verzichten gelernt hat, kann auch nicht richtig geniessen. Wer es nicht schafft, im Verzicht zu warten und dabei Spannung auszuhalten, kann auch nicht recht geniessen, er braucht immer stärkere Genuss-Reize.
Beides lernen wir in der Lebensgemeinschaft mit Christus: Alles vermag ich - verzichten und geniessen - durch den, der mich stark macht. Wenn wir dauernd im Überfluss leben, sollten wir um unserer Reife und Lebensqualität willen von Zeit zu Zeit freiwillig verzichten.

Datum: 24.06.2010
Autor: Walter Gasser
Quelle: Bausteine/VBG

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