Wegen der Reformation sieht die Welt heute anders aus. Doch nicht wie sie sollte. Der Reformationstag macht auch klar: Der Kampf für Wahrheit und Gerechtigkeit geht weiter.
Zu den herausragenden Gestalten dieses Ringens gehören die Propheten in der Zeit der altisraelitischen Königreiche. Als Sprachrohre Gottes standen sie quer zum Zeitgeist, quer zur Elite des Staates. Und – vielleicht noch riskanter – quer zur Selbstgefälligkeit der Reichen, die die Augen vor dem Elend der Armen verschlossen.
Die Propheten forderten Gerechtigkeit und bezahlten dafür einen hohen Preis. Jesus stand in ihrer Tradition, als er die profitable Heuchelei der ‚Frommen‘ seiner Zeit geisselte. Der Reformationssonntag ist ein Anstoss, über die Radikalität von Jesus nachzudenken. Er sah die Menschen mit den Augen des himmlischen Vaters. Nichts blieb ihm verborgen.
Die Wahrheit – unverblümt
Den Pharisäern sagte er ins Gesicht, dass ihre Vorgänger die Propheten umgebracht hatten. Und sie errichteten ihnen nun prächtige Grabmäler, um darüber hinwegzutäuschen! (1) Seinen leiblichen Brüdern, die sich an seiner Popularität sonnen wollten, sagte Jesus einmal: „Euch kann die Welt nicht hassen, mich aber hasst sie, weil ich ihr das Zeugnis ausstelle, dass ihre Werke böse sind.“(2)
1500 Jahre später setzten die Reformatoren auf ihre Weise radikal an: Durch die Wiederentdeckung grundlegender Wahrheiten der Bibel und die Konzentration auf Jesus Christus, der Sünder gerecht macht – ohne dass sie es verdienen! – und für sie vor dem himmlischen Vater einsteht, wollten sie die Kirche zurückführen auf ihre ursprüngliche Form; daher das Wort reformatio. Doch Rom liess sich darauf nicht ein, sondern tat diese Männer in den Bann. So entstand etwas Neues: evangelische Kirchen.
Im Dilemma
Man kann es den Reformatoren kaum verdenken, dass sie für diese jungen, ungefestigten Kirchen den Schutz der Landesfürsten (D) oder der herrschenden Familien ihrer Stadtstaaten (CH) in Anspruch nahmen. Damit begaben sie sich indes in ein Dilemma, denn der Schrei der Geknechteten nach Linderung der Steuerlasten war nicht zu überhören. In Deutschland führte er zum Bauernkrieg; Luther rechtfertigte seine blutige Niederschlagung.
Täufer und andere Prediger zielten auf neue, christlich geprägte Gemeinschaftsformen ab; manche liehen den Forderungen im Volk ihr Ohr. Diese radikalen Zweige der Reformation wurden von den Reformatoren abgehauen. Die Wiederherstellung der Kirche musste obrigkeitskonform verlaufen. Zwar nahmen die Reformatoren die Kritik sozialer und geistlicher Missstände durch die Propheten der Bibel sehr wohl ernst – der Schrecken, den die nach Mitteleuropa vorrückenden Türken verbreiteten, liess viele an ein endzeitliches Gericht Gottes denken. Doch umherziehende Propheten durfte es nicht geben; die Pfarrer auf der Kanzel hatten das Verkündigungsmonopol.
Staatskirchen
Diese und viele andere Faktoren trugen zur ‚Zähmung‘ des Evangeliums bei. Die Kirche nahm bald eine bürgerliche Gestalt an; aus dem Aufbruch von Luther, Zwingli und Co. erwuchs die altprotestantische Theologie. Städte wie Zürich und Bern bekamen durch die Reformation ein anderes Gepräge, und von der Reformation in Genf ging eine Dynamik aus, die Westeuropas Entwicklung zur Moderne dramatisch beschleunigen sollte. Doch die Umgestaltung aller Lebensverhältnisse durch die Kraft des Evangeliums fand nicht statt. Die Pfarrer erfüllten auch obrigkeitliche Aufgaben und hatten ihre Herde zu kontrollieren.
Widerstand gegen die Unterdrückung
Es kommt nicht von ungefähr, dass Christen in Indien und anderen Kulturräumen, in denen Menschen besonders umfassend unterdrückt und ihrer Würde beraubt werden, die umwälzende Wucht des Evangeliums neu entdeckt haben und proklamieren. Der bedeutende Sozialaktivist, Denker und Autor Vishal Mangalwadi (‚Truth and Social Reform‘) gehört zu ihnen. Es geht diesen Denkern um mehr als private Frömmigkeit – es geht um Gemeinschaften, die vom Geist von Jesus Christus geprägt sind und wahrhaft leben, die dienen und dadurch die Gesellschaft als Ganzes mit der von Jesus geforderten Gerechtigkeit konfrontieren.
Wo ist dein Schatz?
Reformation heute heisst: Die Worte der Propheten müssen neu gehört und befolgt werden. Jesus ging in ihren Spuren, als er in Frage stellte, ob Reiche Zugang zum Reich Gottes finden.(3) Und in der Bergpredigt: „Sammelt euch nicht Schätze auf Erden, wo Motte und Rost sie zerfressen, so Diebe einbrechen und stehlen. Sammelt euch vielmehr Schätze im Himmel… Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz… Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“(4)
(1) Die Bibel, Matthäus 23,29-32, vgl. Brief an die Hebräer 11,32-38
(2) Johannes 7,7
(3) „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr als ein Reicher in das Reich Gottes“, Matthäus 19,24
(4) Matthäus 6,19-24
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