«Zeiten
wie diese prüfen die Seele der Menschen.» Mit diesem Zitat von Thomas Paine
beginnt Rabbi Jonathan Sacks seinen Vortrag zum Thema Zukunftsangst. Er malt
darin das Bild einer Welt, die sich schnell verändert und noch schneller
verändern wird. Er referiert über Angst vor Spaltungen und Extremismus. Und trotzdem
zeichnet er ein Bild der Hoffnung, in der das «Wir» entscheidet. Und nicht
zuletzt die Gemeinschaft mit Gott.
Rabbi Jonathan Sacks
Jeder
kennt Angst. Deshalb definiert Jonathan Sacks (69) sie auch nicht in seinem Vortrag
über den Umgang mit Zukunftsängsten. Der ehemalige britische Grossrabbiner und
Philosoph setzt vielmehr bei dem an, was wir heute verehren – uns selbst. Es
sieht dies zunächst nicht kritisch, doch er behauptet, dass wir als soziale
Wesen unsere Probleme und Ängste letztlich nicht allein lösen werden. Zu viel
«Ich» macht einsam. Um angstfrei in die Zukunft zu schauen, brauchen wir das
«Wir».
Das «Wir» der Beziehung
Sacks beschreibt sich als jungen Studenten:
selbstbezogen, voller Existenzängste und ein unangenehmer Gesellschafter. Das
war er so lange, bis er jemanden kennenlernte, der so ganz anders war als er –
seine heutige Frau. Er hält fest, dass Menschen, die nicht so sind wie wir, uns
wachsen lassen. Und dies weitet er auf unsere Beziehungen insgesamt aus. Es ist
gefährlich, nur in der Filterblase seiner Google- und Facebookfreunde zu leben
und sich nur mit gleichen Meinungen zu umgeben. Das fehlende Korrektiv lässt
uns laut Harvard-Professor Cass Sunnstein extrem werden. Sacks unterstreicht,
dass jeder Schritt auf einen anderen zu dieses neue «Wir» baut und Ängste
nimmt. In der Begegnung mit Menschen merken wir, dass wir unterschiedliche
Meinungen haben und doch Freunde sein können. «Jedes Mal, wenn wir jemandem die
Hand der Freundschaft entgegenstrecken, der nicht so ist wie wir, der sich in
Gesellschaftsschicht, Glaube oder Hautfarbe von uns unterscheidet, heilen wir
einen der Risse unserer verwundeten Welt.»
Das «Wir» der Identität
Eine persönliche Identität oder auch eine als Volk muss
geschaffen werden – und zwar immer wieder neu. Allerdings hat unsere westliche
Zivilisation damit aufgehört, unsere Geschichte zu erzählen. Wir erklären nicht
mehr, wer wir sind und warum. Gleichzeitig kommen Menschen ins Land, die diese
Identität bislang nicht teilen. Begriffe wie «christliches Abendland» werden
immer leerer. Augenzwinkernd verweist der Rabbiner hier auf die Juden, die
diese Identität immer noch schaffen, indem sie ihren Kindern regelmässig von
ihrer Herkunft erzählen, von der Schöpfung, dem Exodus, der Geschichte Gottes
mit ihnen. Sacks schlägt den Bogen ins Hier und Heute, indem er festhält, dass
wir uns ohne eine starke Identität von Fremden bedroht fühlen. Mit einer
starken eigenen Identität dagegen können wir Fremde willkommen heissen. «Wir
müssen dazu zurückkommen, unsere Geschichte zu erzählen: wer wir sind, woher
wir kommen, nach welchen Werten wir leben.»
Das «Wir» der Verantwortung
«Wir, das Volk» ist Sacks' Lieblingsausdruck in der
Politik. Genauso wie der Slogan «Wir sind das Volk» beim deutsch-deutschen
Mauerfall unterstreicht er, dass wir gemeinsam Verantwortung übernehmen.
Zurzeit macht sich an vielen Stellen wieder so etwas wie ein magisches Denken
breit. Die Probleme und Herausforderungen sind komplex und einfache Lösungen
sind nicht in Sicht. Dies gilt für gesellschaftliche, politische und religiöse
Fragen gleichermassen. Da ist die Versuchung gross, schnelle Lösungen von einem
einzelnen starken Leiter zu erwarten. Doch Verantwortung lässt sich nur
gemeinsam tragen. «Die einzigen Menschen, die uns vor uns selbst retten werden,
sind wir, das Volk.»
In diesem Zusammenhang verweist der ehemalige
Grossrabbiner auf «kontraintuitives Denken». Nicht zufällig erinnert es stark
an die Bergpredigt, wenn Sacks festhält, dass auch ein Volk stark wird, wenn es
sich um die Schwachen kümmert, und reich, wenn es für die Armen sorgt. Sein
Vorschlag zum Abschluss lautet: «Starten Sie eine Suchen-und-Ersetzen-Operation
beim Inhalt Ihrer Gedanken. Und wo immer Sie das Wort 'selbst' entdecken,
ersetzen Sie es durch 'andere'.» Selbstbewusstsein wird zu dem Bewusstsein für
andere, Selbstachtung zur Achtung anderer und so weiter.
An
der Hand
Dieses «Wir» in neuen Beziehungen, in einer starken
eigenen Identität, in Verantwortung füreinander nimmt uns die Angst vor der
Zukunft. Denn wir sind nicht allein. Das unterstreicht Jonathan Sacks mit einem
der für ihn «bewegendsten Sätze aller religiösen Literatur»: «Auch wenn es durch dunkle Täler geht, fürchte ich
kein Unglück, denn du, Herr, bist bei mir» (Psalm, Kapitel 23, Vers 4).
Tatsächlich können wir ohne Angst jeder Zukunft begegnen, wenn wir uns ihr
gemeinsam stellen – vor allem gemeinsam mit Gott.
T.E.D.
war eine jährliche Konferenz in Kalifornien, bei der Menschen in kurzen
Ansprachen zu den Themen Technologie, Entertainment und Design sprachen. Das
Motto der Veranstalter ist: «Ideas worth spreading», Ideen, die es wert sind,
verbreitet zu werden. Dies geschieht inzwischen mit breiterem Themenspektrum
milliardenfach übers Internet im Rahmen der T.E.D. Talks.
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