«Lasst die Kinder zu mir kommen» – und zwar sicher
Immer
wieder berichten die Medien von Kirchen und Gemeinden, in denen Kinder und
Jugendliche sexuell missbraucht wurden. Dass dies im Verhältnis zum häuslichen
Umfeld relativ selten geschieht, ist kein Trost für Betroffene und kein Alibi
für Christen. Denn man kann dem Missbrauch vorbeugen.
Klaus Kurz ist einer von vielen, die in einem
frommen Umfeld körperlich misshandelt und seelisch zerbrochen wurden.
Der heute
56-Jährige wuchs in einem kirchlichen Kinderheim in Oberammergau auf.
Dort
wurde er bereits mit sieben Jahren gequält und bedrängt, später
systematisch
vergewaltigt und erniedrigt. Bei einer Anhörung durch die Deutsche
Bischofskonferenz klagte er laut Bericht in der WELT die Verantwortlichen an: «Sie haben meine Kinderseele gemordet und meine
Kindheit zerstört. Für Sie sind wir nichts weiter als Menschenmüll!»
Berichte wie seiner rühren zu Tränen und machen
betroffen. Und sie hinterlassen oft eine faule Form der Dankbarkeit: «Danke,
Herr, dass das nicht bei uns geschehen ist.» Häufig noch mit dem
Hintergedanken: «So etwas würde bei uns auch gar nicht passieren …» Aber genau
dieses Danken und Denken ist der Nährboden, auf dem Kindesmissbrauch wachsen
kann.
Die US-Autorin Abby Perry engagiert sich in der #churchtoo-Bewegung,
die zeigt, dass Missbrauch nicht nur in Hollywood ein Thema ist, sondern
auch
unter Frommen. Sie identifiziert in einem Artikel bei Christianity Today
vier Bereiche, in denen Gemeinden ihre Kultur ändern müssen, damit das
Wort von
Jesus ohne schlechten Beigeschmack auch heute gilt: «Lasst die Kinder
und wehrt
ihnen nicht, zu mir zu kommen; denn solcher ist das Reich der Himmel!»
(Matthäus,
Kapitel 19, Vers 14).
1.
Änderung: sichere Beziehungen zu Kindern entwickeln
Zunächst einmal muss die Kirche oder Gemeinde ein
sicherer Ort für Kinder und Jugendliche werden. Und nein: das ist sie nicht
automatisch. Ein vertrauensvoller Umgang miteinander, klare Autoritätsstruktur,
grosse Nähe und generationsübergreifendes Miteinander können Missbrauch
begünstigen. Sicherheit muss also objektiv und aus Sicht der Kinder entstehen.
Dazu gehören vertrauenswürdige Mitarbeitende, an die ein Kind sich wenden kann.
Erwachsene kennen die Kinder und sprechen sie auch von sich aus an, wenn sie
Veränderungen registrieren. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hören zu und sind
pädagogisch ausgebildet, «keine Leute, die selbst am Liebsten wieder Kinder
wären» (Perry).
2.
Änderung: Worte sorgfältig wählen
Gerade bei Kindern, die bereits durch Missbrauchserfahrungen
traumatisiert sind, kann das vermittelte Gottesbild eine besondere Rolle
spielen. Wer von seinem Vater missbraucht wird, für den ist «Gott der Vater»
oft eine gruselige Vorstellung, doch die Bibel kennt noch viele andere Bilder
für Gott, wie zum Beispiel den guten Hirten. Verwandte kaschieren ihren
Missbrauch oft mit Scheinerklärungen wie: «Ich hab dich doch lieb», so bekommt
Liebe für die Kinder einen faulen Beigeschmack. In diesem Zusammenhang ist es
noch nötig zu unterstreichen, dass erwachsene Verwandte im Gemeindekontext
weder unter Generalverdacht stehen, noch prinzipiell davon freigesprochen sind:
Missbrauch ist überall möglich.
Wichtig ist auch das in der Gemeinde vermittelte
Körper- und Selbstbild: Hier kommt es darauf an, nicht nur von Reinheit zu
sprechen, sondern auch von Selbstbestimmung und Würde. Kinder und Jugendliche
sollen wissen, dass weder Eltern noch Pastoren oder Kindergottesdienstleiter sie
verletzen dürfen oder anfassen, wenn sie dies nicht möchten. So etwas im
Kindergottesdienst zu thematisieren ist herausfordernder, als noch einmal die
Geschichte von Josef und seinem bunten Rock zu erzählen. Doch Missbrauch ist
viel leichter möglich, wenn Elternhaus, Schule und Gemeinde das Reden darüber
zwischen sich wie einen «Schwarzen Peter» hin und her schieben.
3.
Änderung: das Erzählen von Kindern ernst nehmen
Eine der frustrierenden Tatsachen im Bereich
Missbrauch ist, dass praktisch alle betroffenen Kinder versucht haben, Hilfe zu
bekommen – aber oft wurden sie nicht verstanden, oder es wurde ihnen nicht
geglaubt. Hier brauchen Gemeinden eine neue Kultur des Zuhörens und ernst
Nehmens. Und dazu gehört auch ein definierter Ablauf, wenn solch ein Vorwurf im
Raum steht. Die kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter brauchen nicht
herauszufinden, ob die Aussage berechtigt ist (und sie so in Zweifel ziehen).
Sie können nachfragen, um sie besser zu verstehen. Und sie sollten das tun, was
Opfer wie der oben zitierte Klaus Kurz zu recht vermissen: professionelle Hilfe
von aussen holen bzw. den Verdacht bei Polizei und Jugendamt melden. Das
scheint ein harter Schritt zu sein – und er ist es auch. Aber er gehört
unbedingt zum Opferschutz und bestimmt die Atmosphäre in der Gemeinde positiv.
4.
Änderung: Verantwortung übernehmen
Das Thema Missbrauch ist kein Lieblingsthema in
Kirchen und Gemeinden. Und meistens ist hier auch nicht die Kompetenz
vorhanden, wie man ihm am besten vorbeugt oder damit umgeht, wenn er
tatsächlich eingetreten ist. Doch genau dazu gibt es staatliche oder
gemeinnützige Organisationen, die gerne helfen. Mitarbeitende müssen nicht nur
geschult werden, wie sie biblische Inhalte vermitteln, sondern genauso, wie sie
aktiv für das Kindeswohl eintreten können. Sie brauchen ein polizeiliches Führungszeugnis
(Deutschland) oder einen Strafregisterauszug (Schweiz). Sie sollten eine
Ehrenerklärung abgeben. Es muss der ganzen Gemeinde klar sein: Missbrauch macht
vor der Kirchentür nicht halt. Aber hier wird er aufgedeckt und zur Anzeige
gebracht. Gott liebt auch Pädophile, die die liebevolle Atmosphäre einer
Gemeinde dazu nutzen, um Kindern (zu) nahe zu kommen. Und sie sollen wissen,
dass die Gemeinde für sie beten wird, wenn sie im Gefängnis sitzen.
Abby Perry schliesst ihren Artikel mit diesem Votum:
«Kein Leiter kann die Gemeindekultur allein ändern, jedenfalls nicht nachhaltig.
Wenn Christen Kindesmissbrauch ernst nehmen wollen, dann ist die Zeit dafür
jetzt gekommen – und der Einsatz muss total sein. Die Kinder, die Jesus eins
nach dem anderen segnete, haben es endlich verdient.»
Hilfsangebote:
Deutschland:
Nummer gegen Kummer für Kinder und Jugendliche, anonym und kostenlos, Mo.–
Sa. 14–20 Uhr: 0800-111 0 333. Elterntelefon: 0800-111 0 550
help, die unabhängige Anlaufstelle für Betroffene von sexualisierter Gewalt
in der evangelischen Kirche und der Diakonie: Terminvereinbarung für Beratung:
zentrale@anlaufstelle.help
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