Nächstenliebe im Alltag zu leben, bedeutet, unseren Mitmenschen
gleichermassen in Wahrheit und mit Barmherzigkeit zu begegnen. Ein
einseitiger Fokus auf Barmherzigkeit wird unserem Nächsten ebenso wenig
gerecht wie eine ausschliessliche Betonung der Wahrheit. Darüber hat sich Marc Jost, Generalsekretär der Schweizerischen Evangelischen Allianz SEA, zum Jahresende Gedanken gemacht.
Marc Jost (Bild: zVg)
Die
unmittelbarste biblische Assoziation zur Barmherzigkeit dürfte der
«barmherzige Samariter» sein. Aus demselben Volk stammt eine Frau aus
der Bibel, die uns einen weiteren wichtigen Aspekt der Barmherzigkeit
– wie sie Jesus versteht – aufdeckt.
Jesus kombinierte Barmherzigkeit mit Wahrheit
Jesus ist auf der Durchreise
und trifft in Samarien eine Frau am Jakobsbrunnen. Im Gespräch
mit dieser Frau wird bald klar, dass sie ein schwieriges
Leben hat. Sie lebt mit dem fünften Mann zusammen. Jesus geht im
Gespräch sehr einfühlsam vor und doch konfrontiert er die Frau sehr
direkt mit der Wahrheit: Er beschreibt nicht nur ihre
persönlichen Missstände, sondern kritisiert auch ihren
samaritanischen Glauben. Jesus begegnet der Frau mit Barmherzigkeit,
aber ebenso mit der Wahrheit. Und darauf erlebt die Frau eine
grosse positive Wende in ihrem Leben.
Bei einer anderen Begegnung mit
einer Frau im Ehebruch reagiert Jesus ebenfalls barmherzig: «Wer
von euch ohne Sünde ist, der soll den ersten Stein auf sie werfen.»
Und als alle Männer verschwunden sind, sagt Jesus zur Frau: «Ich
verurteile dich auch nicht; du darfst gehen. Sündige von jetzt an
nicht mehr!» Auch in dieser Aussage sind Barmherzigkeit und Wahrheit
enthalten; das Gebot Gottes wird nicht relativiert, aber mit
Barmherzigkeit vor Augen geführt.
Falsche Barmherzigkeit
Unsere
Zeit verführt uns Christen manchmal dazu, einseitig zu werden. Es
gibt Situationen, in denen der aktuelle Trend nur noch
Barmherzigkeit fordert. Solche Tendenzen finden wir heute
teilweise in der Suchttherapie, wenn einseitig auf
«Schadenminderung» gesetzt wird und Therapie und vor allem Repression
vernachlässigt werden. Aber auch im Umgang mit Sexualität, wenn
die freie Liebe gerade von Jugendlichen so begleitet wird, dass zwar
über Verhütung und Schutz vor Krankheiten informiert, aber der
Wahrheit nicht ins Gesicht geschaut wird, wenn doch eine
Schwangerschaft eintritt. Man ist dann vermeintlich barmherzig mit den
jungen Erzeugern und rät zur Tötung des Embryos, der die Konsequenzen –
die Wahrheit – fälschlicherweise tragen muss.
Zu wenig Barmherzigkeit
Wiederum
gibt es Situationen, in denen der Trend genau ins Gegenteil geht und
nur noch die Wahrheit und das Gericht vor Augen sind. So wird
zum Beispiel in breiten Kreisen pauschal eine lebenslängliche
Verwahrung für pädophile Straftäter gefordert, ohne zu überlegen,
inwiefern auch hier Barmherzigkeit angebracht und möglich ist. Ähnlich
ist der Trend im Umgang mit ausländischen Straftätern, wenn konsequent
die Ausschaffung verlangt wird. Zu Recht fordern unsere Gerichte in
solchen Fällen Verhältnismässigkeit, was ein Ausdruck von
Barmherzigkeit ist.
Ich sehe sowohl ein Zuviel an Barmherzigkeit
oder eine falsche Barmherzigkeit als auch eine einseitige
Fokussierung auf die Wahrheit. Beides wird dem Gegenüber nicht
gerecht. Jesus kann uns als Vorbild dienen, wenn wir mit
schwierigen Situationen herausgefordert werden.
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