Fast 1400 Menschen
nehmen sich in der Schweiz jährlich das Leben. Wie kann Suizidgefährdeten und
Angehörigen geholfen werden? Ein Gespräch mit Jörg Weisshaupt von der
Fachstelle Kirche+Jugend in Zürich.
«idea Spektrum»:
Die Schweiz nimmt einen traurigen Spitzenplatz in der Statistik ein?
Jörg Weisshaupt: Seit der Osterweiterung sind wir in die
Mitte abgerutscht. Nicht, weil wir weniger Selbsttötungen haben, sondern weil
es im Osten mehr Suizide gibt. Gründe können das Drogen- und Alkoholproblem
sein, der Wegfall der starren Strukturen mit starker Kontrolle, aber auch die
neue Freiheit, die überfordern kann.
Wie verhält es
sich mit Alter und Geschlecht?
Grosse Prozentanteile sind bei den 20- bis 25-Jährigen, im mittleren
Alter (Stichwort Midlife-Crisis) und bei den Senioren ab 70 festzustellen. Bei
den Frauen resultieren drei Mal mehr versuchte Suizide als bei Männern, etwa 11
000 Suizidversuche pro Jahr. Demgegenüber sind zwei Drittel aller Suizidopfer
Männer. Der Grund liegt darin, dass Männer meist einen unwiderruflichen Weg mit
der Waffe oder dem Sprung in die Tiefe wählen, während Frauen es mit Tabletten
versuchen, wo oft noch Hilfe möglich ist. Viele Frauen äussern einen Notschrei:
«Ich möchte nicht sterben, aber so kann ich nicht mehr weiterleben.»
Welche Gründe
können zu einem Suizid führen?
Todkranke Menschen fassen den Schritt ins Auge, weil sie
«niemandem zur Last fallen wollen» oder es nicht aushalten, auf jemanden
angewiesen sein zu sein - also falsche Demut oder falscher Stolz. Viele ältere
Menschen haben ein stark ausgeprägtes Gefühl, zu nichts mehr nütze, nichts mehr
wert zu sein. Beim mittleren Alter können Ablösungsprozesse, Verluste durch
Scheidung oder ein Karriereknick Ursache sein. Bei den jungen Erwachsenen
spielt die Sinnfrage eine grosse Rolle: Warum soll ich aufs Kiffen und auf
Alkohol verzichten, wenn die Welt sowieso durch eine Atomverseuchung kaputt
geht? Warum lebe ich überhaupt? Sehr oft ist ein mangelndes Selbstwertgefühl
feststellbar. In den meisten Fällen liegt der Grund für einen Suizid in einer
Anhäufung von Ereignissen.
Wie gehen
Kirchen mit Suizid um?
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass in freikirchlichen
Kreisen offener mit dem Thema umgegangen wird. Hier wird das Thema weniger tabuisiert.
Die katholische Kirche hat Suizid bis in die 1980-er Jahre als Todsünde
bezeichnet; suizidale Menschen wurden nicht auf dem «normalen» Friedhof
bestattet. In der Schweiz nehmen sich mehr Reformierte als Katholiken das
Leben. Die Bibel erwähnt suizidale oder suizidgefährdete Menschen (Judas,
Jona), beurteilt und verurteilt diese aber nicht.
Gibt es äussere
Warnzeichen?
Mangelndes Selbstwertgefühl kann sich in vernachlässigter
Körperpflege und Ernährung oder zu wenig Schlaf ausdrücken. Oder darin, dass
Besitz nicht mehr so viel zählt und sich ein Jugendlicher etwa von seiner
CD-Sammlung trennen will. 80 Prozent der Suizide werden von psychisch
erkrankten Menschen begangen.
Stimmt es, dass
sich nicht umbringt, wer damit droht?
Leben als Geschenk Gottes: Jörg Weisshaupt möchte betroffenen Menschen wieder neue Perspektiven vermitteln.
Wer mit Selbsttötung droht, muss in jedem Fall ernst genommen
werden. Man sollte die Signale ernst nehmen, aber auch nicht unbedingt gleich
«alle Hebel in Bewegung setzen». Und zurückfragen: «Das hast du mir doch schon
letzte Woche gesagt. Wie ist es jetzt für dich?» Bei der SMS-Seelsorge stellen
wir konkrete Fragen, um die Situation einzuschätzen. Meist wird die Sache schon
bei der ersten Mitteilung auf den Punkt gebracht. ...nicht alle
schreiben SMS!
Der Tsunami in Japan hat gezeigt, dass viele Menschen eine
Maske tragen. Doch plötzlich bricht etwas auf. Viele meinen, ein Nachfragen
könne sogar zum Suizid ermutigen. Ich empfehle Offenheit: «Ich habe den
Eindruck, dass dir dein Leben nichts mehr wert ist. Könnte es sein, dass du dir
das Leben nehmen willst?» Man darf auch ausdrücken, dass man sprachlos ist.
«Viel sagen kann ich nicht, aber zuhören kann ich.» Bei den Hinterbliebenen
folgt häufig die Schuldfrage: «Was habe ich versäumt?»
Stichwort
Hinterbliebene...
Der Fachbegriff für Hinterbliebene lautet «Survivors»
(Überlebende). Es ist wichtig, dass betroffene Menschen sich nicht
zurückziehen. Viele haben jedoch Angst, die andern zu schockieren oder zu
überfordern. Mein Tipp für Betroffene: Aktuelle Bedürfnisse klar kommunizieren.
Und «für die anderen»: Konkrete Dienstleistungen anbieten, etwa Kinder hüten
oder einkaufen gehen. Das erste Jahr nach einem Suizid ist entscheidend.
Welche Hilfe
bieten Sie?
Wir begleiten Menschen in ihrem komplizierten Trauerprozess. Dabei
sind wir auf die Vernetzung mit Fachleuten angewiesen. Ich selber bin im
Vorstand von zwei Fachorganisationen, lese viele Bücher und bilde mich
autodidaktisch weiter. Wir hätten uns gewünscht, dass im neuen
Gesundheitsgesetz auch die psychische Krankheit mehr Gewicht erhält. Sie hängt
stark mit der Suizidalität (Anfälligkeit) zusammen. Es kann doch nicht sein,
dass das Bundesamt für Gesundheit von 30 Millionen Franken jährlich ein Drittel
in die Aids-Prävention investiert, aber keinen einzigen Rappen in die
Suizidprävention!
Wie gehen Sie
persönlich mit Leid und Trauer um?
Beim Absenden einer SMS bitte ich Gott um Hilfe bei der
Formulierung. «Schenk mir die richtigen Worte!» Für mich sind der Glaube und
die Beziehung zum Schöpfer sehr wichtig.
Sind gläubige
Menschen weniger suizidgefährdet?
Studien aus Amerika zeigen, dass gläubige Menschen
tatsächlich weniger gefährdet sind. Letztlich ist entscheidend, welchen Glauben
wir haben: Ist es ein gesunder, lebensbejahender Glaube oder ein gesetzlicher
mit dem Gottesbild eines harten, strafenden Gottes?
Kann die
«Todesspirale» durchbrochen werden?
Wer den Strick auf dem Estrich schon geknüpft hat, kann
höchstens durch ein klares Ansprechen von der Tat abgehalten werden. Häufig
kann das Rad der Zeit aber nicht zurückgedreht werden. Ich frage mich oft, ob
die verschiedenen Hilfsangebote zu hochschwellig sind. Klar ist für mich: Ein
zunehmender «Röhrenblick» blendet den Rettungsanker mehr und mehr aus.
Sie appellieren
an die christliche Öffentlichkeit?
Ich denke, christliche Gemeinden sollten mehr
niederschwellige Gefässe schaffen, wo Menschen zusammenkommen und sich aus-
tauschen können. Psychisch schwache Menschen müssen mit einbezogen werden.
Psychiatrie und Seelsorge sollten vermehrt Hand in Hand gehen. Kurz: Hecken
überwinden, mehr offene Häuser!
Rechnen Sie nach
«Japan» mit Selbstmorden?
Viele Jugendliche argumentieren so, fühlen sich machtlos und
ausgeliefert. Ich hoffe vielmehr, dass viele junge Menschen erwachen und ihre
Energie nicht in ihre Zerstörung, sondern in die Umgestaltung bestehender
Verhältnisse investieren.
Gibt es eine
«Prävention im Kleinen»?
Ich wünsche mir starke Kinder und Jugendliche, die sagen
können: «Ich brauche den Stoff, Pornos oder Gewalt nicht.» Das bedingt ein
gutes Fundament. Ein gesundes Selbstwertgefühl ist die Voraussetzung dafür, in
dieser Welt zu bestehen und Verantwortung zu übernehmen.
Wie lautet Ihr
Lebensmotto?
Der christliche Glaube schenkt mir Ruhe und Geborgenheit.
Dadurch stehe ich auf der Seite des Lebens. Und möchte mich dafür einsetzen,
Leben als Geschenk Gottes bewusst zu machen.
Zur Person:
Jörg Weisshaupt, geboren 1956, verheiratet, drei Kinder, ursprünglich
Sekundarlehrer, jetzt Jugendbeauftragter, wohnhaft in Zollikon ZH. Jörg
Weisshaupt leitet die Fachstelle Kirche+Jugend des Verbands
evangelisch-reformierter Kirchgemeinden der Stadt Zürich.
Sie bieten Hilfe an
Die Fachstelle Kirche+Jugend in Zürich bietet Selbsthilfegruppen für
suizidbetroffene Jugendliche und Erwachsene an: In der Gruppe
«Nebelmeer» treffen sich Menschen, die einen Elternteil durch Suizid
verloren haben. Das Angebot will neue Perspektiven vermitteln. Die Gruppe
«Refugium» richtet sich an Hinterbliebene, die jemanden durch Suizid
verloren haben. SOS per SMS: Nummer 767 kann rund um die Uhr angeschrieben
werden.
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