Vor den Wahlen setzen nicht nur kleine Parteien wie die EDU und EVP, sondern auch die CVP und SVP wieder auf «christliche Werte», sagen uns die Politologen. Was aber ist eine «christliche Politik»? Vorerst vor allem eines: ein Bündel von Missverständnissen. Im Folgenden der Versuch einer Klärung.
1. Es gibt keine christliche Politik, nur christliche Politiker
Wenn die Behauptung stimmen würde, wäre es egal, wie jemand politisiert, er oder sie müsste einfach Christ sein. Ein Politiker würde sich mit Aussagen wie «So wahr mir Gott helfe» vom Populisten zum Christen mausern. Ja, wer sich glaubhaft zu Christus bekennt, ist damit Christ, aber er oder sie macht damit noch lange nicht christliche Politik.
Wenn man beim bibeltreuen US-Präsidenten George W. Bush hingesehen habe, wie er sich politisch äusserte, habe man gerade bei ihm «absurde, der christlichen Lehre widersprechende Ideen und korrupte Verhaltensweisen» gefunden, sagt dazu der evangelische Theologe Ron Sider. Solchen Politikern fehle «eine theologisch-biblisch begründete politische Philosophie».
Laut Sider gehört dazu die Begründung eines normativen Rahmens, der mit einer umfassenden biblischen Exegese erarbeitet werden muss. Parallel dazu brauche es eine sorgfältige «soziologische Studie der Gesellschaft»
Anders gesagt: Was eine christliche Politik sein könnte, wird deutlich, wenn wir die Bibel mit den Augen der Gesellschaft und die Gesellschaft mit den Augen der Bibel lesen. Das Ergebnis ist zu prüfen im überparteilichen Gespräch mit Christen und Fachleuten unterschiedlicher Couleur.
Einige Themen lassen sich rasch mit einer christlichen Politik verbinden: So der Schutz des Lebens am Anfang, zwischendurch und am Schluss, der Schutz von Ehe und Familie oder der nachhaltige Umgang mit natürlichen Ressourcen. Bei andern Fragen – wie etwa der Rolle des Staates in der Gesellschaft – gibt es für Christen einen grösseren Spielraum innerhalb einer christlichen Politik.
Und in Anwendungsfragen kann man als Christ oft in guten Treuen so oder anders entscheiden. Wichtig ist, dass diese Entscheidungen auf einer christlich begründeten politischen Philosophie beruhen. Sonst verliert man sich rasch im Links-Rechts-Schema der Politik.
2. Christlich politisieren kann man nur in den «E-Parteien»
Jede der grossen Parteien hat aus christlicher Sicht ihre Stärken und Einseitigkeiten. Der Liberalismus der FDP war im rein freisinnigen Bundesrat des Schweizer Nationalstaates antikirchlich und antichristlich. Man wollte auch Gott gegenüber unabhängig sein. Die FDP hat aber dazu beigetragen, einen blühenden Schweizer Wirtschaftsraum zu schaffen.
Die CVP brachte die katholische Soziallehre in den Bundesrat und half mit, Auswüchse dieses Wirtschaftsraumes zu bekämpfen. Als Volkspartei musste die CVP immer wieder versuchen, die verschiedensten Interessen unter den (kirchlichen) Hut zu bringen.
Die SVP mit ihren Bauern und Gewerblern war mit ihrer Bindung an die Scholle und den Ort immer wieder durch nationalistische Tendenzen gefährdet; sie bewies aber auch Lernbereitschaft und Nähe zum einfachen Volk.
Die SP wurzelt mit dem Anliegen der Gerechtigkeit für alle im jüdisch-christlichen Gedankengut, das aber durch ein materialistisch-humanistisches Weltbild immer wieder verfremdet wurde.
Die grünen Parteien müssten mit der Ausrichtung auf die Natur eigentlich am Herzschlag des Schöpfers politisieren; ihr unklares Gottesbild führt aber immer wieder zu einer inkonsequenten Politik, die z.B. den Schutz der Tierwelt über den des menschlichen Lebens stellt.
Die genannten Parteien haben mehr Macht als die kleinen E-Parteien. Es gilt, ihre Einseitigkeiten zu korrigieren und an ihren schlummernden christlichen Werten anzuknüpfen. Wenn Christen aus allen Parteien zusammen beten und sich soweit möglich in ihrer Politik abstimmen würden, wären wir einer christlichen Transformation der Schweiz bedeutend näher.
3. Die Bibel sagt uns, wie wir politisieren sollen
Die Bibel ist eine Sammlung von 66 Handschriften, die im Verlauf von etwa 1200 Jahren entstanden ist und knapp 400 Jahre nach Christi Geburt abgeschlossen wurde. Auch wenn sie das am genausten überlieferte historische Dokument der Antike ist: Mit Bibelversen allein lassen sich heutige politische Probleme nicht lösen.
Da die Bibel von ihrem Anspruch her Wort Gottes ist, kann und soll sie aber Grundlage sein für eine politische Philosophie. Es gilt, sorgfältig zu klären, was die biblischen Inhalte damals bedeutet haben, und was sie unter heutigen Umständen zu sagen haben.
Dabei kann es zu neuen Schwerpunkten kommen: So meint der Kulturauftrag – zumindest in unsern Breitengraden – heute weniger das Bebauen, sondern viel mehr das Bewahren der Schöpfung. Christen treffen mit biblischen Grundaussagen heute auf eine multikulturelle und offene demokratische Gesellschaft.
Damit man sie politisch überhaupt versteht und mit ihnen verhandeln kann, müssen sie ihre Aussagen in Werte übersetzen. Die christlichen Grundwerte sind dabei unwandelbar, weil sie von höchster Warte allen Menschen zugesprochen worden sind. Ihre Anwendung in Einzelfragen bedarf aber einer intensiven Diskussion mit Menschen aus allen politischen Parteien und Weltanschauungen. Gewinnen soll dabei das besser begründete Argument.
4. Eine christliche Leitkultur hat in einem religiös neutralen Staat nichts zu suchen
Moderne Staaten bieten einen Lebensraum für alle Religionen, darunter auch für Menschen, die glauben, keiner Religion zu folgen. Das Zusammenleben dieser Menschen muss aber geregelt werden. Auch in einer Demokratie gibt es Grundwerte, die nicht verhandelbar sind.
Wenn Menschen in unsere Kultur integriert werden sollen, müssen wir sagen können, welche Kultur wir meinen. Die Menschenrechte bilden heute faktisch unsere Leitkultur. Wenn wir nach ihrer Begründung fragen, stossen wir vorerst auf humanistische und dann auf christliche Postulate.
Tatsächlich zeigt ein Blick in die Geschichte, dass unsere Kultur viel stärker von Jesus Christus geprägt wurde, als wir das heute meinen. Der Soziologe Alvin J. Schmidt3 nennt u.a. die folgenden Transformationen der antiken griechisch-römischen Kultur durch die Christen: werdende Kinder wurden nicht mehr im Mutterleib getötet, unerwünschte Kinder nicht mehr ausgesetzt; Menschen durften nicht länger für Unterhaltungs- oder zu religiösen Zwecken geopfert werden; Selbstmord wurde nicht mehr verherrlicht; die Frau wurde zur gleichwertigen Partnerin des Mannes und die Ehe als Verbindung von einem Mann mit einer Frau definiert; Prostitution und Pädophilie wurden geächtet; Kinder durfte man nicht verheiraten und Mädchen nicht «beschneiden».
Allgemein zugängliche Spitäler tauchen in der Geschichte erstmals als Folge der selbstlosen christlichen Barmherzigkeit und Nächstenliebe auf. Auch das Anliegen der Bildung für alle und die Wissenschaften sind letztlich «Produkte des Christentums». Mit der Heiligung der Arbeit, der Befreiung des Einzelnen (auch) zur ökonomischen Freiheit sowie der Postulierung von Gerechtigkeit und Freiheit wurde durch das Christentum die Grundlage für ein sozial verträgliches Wirtschaften und für die moderne Demokratie gelegt.
Auch wenn der durch Christus gesetzte Samen oft erst nach Jahrhunderten Früchte trug und manche christliche Errungenschaft auch gegen die kirchliche Hierarchie erkämpft werden musste, gilt: Unsere abendländische Kultur ist auf dem Boden christlicher Werte gewachsen. Es ist deshalb naheliegend, beim Definieren unserer Leitkultur immer wieder nach ihren christlichen Wurzeln zu fragen und zu überlegen, wie wir diesen heute gerecht werden können.
5. Christliche Politik ist undemokratisch
Die Wiege der Demokratie steht im antiken Griechenland. Allerdings profitierte davon nur eine schmale Elite von Männern. Das christliche Menschenbild mit der Betonung der Freiheit des Einzelnen und seiner Rechte führte im Verlauf der Geschichte nicht nur zum Verbot der Kinderarbeit und der Sklaverei, sondern förderte in seiner Konsequenz auch die Grundlagen der Demokratie.
Nicht zufällig haben sich moderne Demokratien zuerst in christlich geprägten Ländern entwickelt. Auch wenn christliche Politiker oft klare Überzeugungen vertreten, werden sie sich mit Respekt an die demokratischen Spielregeln halten.
Diesen Artikel hat uns das Magazin INSIST zur Verfügung gestellt.
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