Aus evangelischer Sicht sei das Kopftuchurteil des Bundesgerichts äusserst bedenkenswert, findet der Kirchengeschichtsdozent und ehemalige Rektor des Theologisch-Diakonischen Seminars Aarau, Peter Henning. Ein Interview.
Kopftuchtragende Frauen
Livenet: Peter Henning, wie beurteilen Sie den Entscheid des Bundesgerichts?
Peter Henning: Ich befürchte, dass der berechtigte Integrationsgedanke und Integrationswille in einen Integrationszwang umschlagen könnte, dem die persönliche Freiheit des Einzelnen geopfert wird. Es ist daher positiv, dass das Kopftuch in der Schule wieder getragen werden darf. Es ordnet die religiöse Freiheit bzw. deren Ausgestaltung nicht den Forderungen nach Integration unter. Beim Bundesgerichtsurteil zum Schwimmunterricht eines muslimischen Mädchens in einer Aargauer Schule wurde hingegen die Pflicht zur Integration höher gewichtet. Diese Tendenz wurde beim neuerlichen Urteil wieder durchbrochen.
Ich bin im Nachkriegsdeutschland selbst mit kopftuchtragenden Frauen aufgewachsen. Noch vor wenigen Jahrzehnten trugen Frauen in osteuropäischen Ländern als Christinnen das Kopftuch ganz selbstverständlich. Insbesondere in konservativen lutherischen Gottesdiensten war es früher sogar obligatorisch. Es wäre interessant, einmal die Kopftuchkultur in Europa ein wenig zu erforschen, um die zuweilen diffus-emotionalen Spontanreaktionen zu versachlichen.
Vertreter eines liberalen Islams und Feministinnen beklagen eine Unterdrückung der Frau durch die Kopftuch-Tragpflicht.
Dieses Problem müssen Muslime grundsätzlich selbst angehen. Ich bin nicht so sicher, ob alle Frauen generell nur wegen einer religiösen Pflicht das Kopftuch tragen. Dazu hört man die Forderungen, Muslimas seien davon zu befreien, weil es sich um eine Bevormundung durch das islamische patriarchalische System handle. Hier gilt es zu differenzieren: Viele muslimische Mädchen und Frauen tragen das Kopftuch aus Gewohnheit oder Tradition, ja finden es auch modisch, schick und schön. Solche Frauen sind allerdings von denen zu unterscheiden, die tatsächlich durch ihre Männer oder Väter unter Druck gesetzt werden. Es wäre zu untersuchen, wie viele das in der Schweiz effektiv sind.
Aus christlicher Sicht wird argumentiert, dass unsere Kultur durch solche muslimischen Kultursymbole unterwandert wird.
Was heisst da «unterwandert»? Wir leben längst in einer globalen multireligiösen Gesellschaft. Für Christen stellt sich vielmehr die Frage: Wie stark sind wir in der Gesellschaft noch präsent? Deshalb ist es wichtig darauf zu achten, dass uns nicht auch die christlichen Symbole durch gesetzliche Einschränkungen der Glaubensfreiheit abhanden kommen. Wir leben in Europa unumkehrbar mit vielen Religionen zusammen, da ist vor allem das friedliche Miteinander wichtig. Ich kann Menschen im öffentlichen Raum, die aus einer andern Kultur oder Religion kommen und entsprechend anders gekleidet sind, ohne Probleme respektieren.
Hat das etwas mit christlicher Toleranz zu tun?
In erster Linie mit einer kulturellen Toleranz. Aber als christlich geprägter Bürger Europas muss ich mich auch dafür einsetzen, dass sich Frauen nicht gegen ihren Willen Traditionen unterwerfen müssen, die sie selbst ablehnen, weil sie dadurch ihre menschliche Würde verlieren. Hier würde ich die gemässigten Muslimen unterstützen, die uns Christen sogar um Hilfe bitten bei der Verhinderung von Indoktrination und Gewalt gegen Frauen. Der fanatische, die Menschenwürde verachtende und totalitäre Islamismus darf unser Land also nicht unterwandern. Denn wo der Mensch nicht mehr Mensch sein darf, kommt die Toleranz an ihre Grenzen. Das müssen wir unbedingt klar stellen!
Könnte fehlende Toleranz nicht auch zum Bumerang werden?
Gerade aus diesem Grund bin ich froh um das Bundesgerichtsurteil zum Kopftuch in der Thurgauer Schule. Es besagt, dass die Integrationspflicht nicht so weit gehen darf, dass religiös-kulturelle Symbole pauschal verboten werden. Denn ich fürchte, wäre das Urteil anders ausgefallen, könnte man dann mit einer ähnlichen Begründung auch Christen und Juden ihre Symbole oder Grundhaltungen in der Öffentlichkeit verbieten mit Berufung auf eine integrative Gesellschaft. Wenn Integration Uniformität und Gleichschaltung bedeutet, droht ein ideologischer Missbrauch, wie wir ihn ja noch aus dem 20. Jahrhundert kennen!
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