Sabrina Bieligk leitet eine
Notunterkunft für obdachlose Menschen in Berlin. So hört sich die Jahreslosung
für sie an: «Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!» (Lukas, Kapitel 6, Vers 36). Sie
erzählt.
Barmherzigkeit ist eine Frage des
Herzens. Eine Herzensbewegung. Barmherzigkeit ist ein Gebot der Menschlichkeit.
Sie lässt sich weder halbieren noch begrenzen durch Vernunftgründe, die doch
nur der Verteidigung unseres eigenen Wohlergehens dienen. Es geht hier nämlich
nicht um uns.
Barmherzigkeit leitet sich aus
dem Liebesgebot ab, das nach dem Wunsch von Jesus das Erkennungszeichen der
Christen sein soll: «Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr einander lieben
sollt, damit, wie ich euch geliebt habe, auch ihr einander liebt» (Johannes, Kapitel 13, Vers 34). Diese Liebe aber ist kein sentimentales Gefühl, sondern eine ethische Maxime.
Sie gilt absolut.
Praktische Barmherzigkeit
Aber was heisst das jetzt
praktisch? Ich leite seit dreieinhalb Jahren eine Notunterkunft für 120
obdachlose Menschen in Berlin. Barmherzigkeit spielt auf jeden Fall eine grosse
Rolle bei meiner Arbeit. Mein Herz öffnen, mich bewegen lassen, berührt sein
vom Schicksal und der Not der Menschen, die tagtäglich zu uns kommen und Hilfe
suchen. Doch nicht immer gelingt es mir, jedem Menschen mit offenem Herzen zu
begegnen bzw. mich von jeder Lebens- und der oft damit verbundenen
Schicksalsgeschichte berühren zu lassen.
Ich merke, dass die Arbeit mich
hin und wieder abstumpfen lässt, vor allem bei so vielen Menschen mit den
unterschiedlichsten Geschichten. An manchen Tagen fällt es mir schwer,
überhaupt barmherzig zu sein, je nachdem, wie voll mein Tag war, welche
Herausforderungen dieser schon mit sich gebracht hat und wie viel Zeit ich habe
für all die zusätzlichen Aufgaben drumherum. Und manchmal ist es auch abhängig
von dem Menschen, der mir gerade gegenübersteht. Wie begegnet er oder sie mir:
freundlich und zuvorkommend, unfreundlich und aggressiv, still und
zurückhaltend, laut und fordernd, dankbar und demütig oder undankbar und
überheblich? Die misshandelte junge Frau, der ältere an Inkontinenz leidende
Mann im Rollstuhl, der junge drogenabhängige Mann, der polnische Gastarbeiter,
der ausgenutzt wurde und seinen Lohn nicht bekommen hat, die russische ältere
Frau, die nicht zurück in ihre Heimat möchte, der sich rassistisch äussernde
deutsche Obdachlose?
Die Jahreslosung macht mir dann
wieder bewusst, wie barmherzig Gott ist, was er für mich getan hat und immer
wieder tut. Ein Gott, der nicht aufrechnet und nicht abwägt, wie viel
Barmherzigkeit ich verdient habe. Der mir mein Versagen, meine Fehler nicht vorhält
und danach entscheidet, was mir «zusteht». Ein Gott, der drüber hinwegsieht,
dass ich oft meine, wie selbstverständlich davon ausgehen zu können, dass mir
Zufriedenheit, Erfolg, Wohlstand Glück und Liebe, einfach zustehen.
Geschenkte Barmherzigkeit
Mann hat Mitgefühl mit einem Obdachlosen
In der Jahreslosung wird mir noch
einmal bewusst, dass ich Gottes Barmherzigkeit geschenkt bekomme, ohne dass ich
etwas dafür tue. Ohne dass ich sie mir aus eigener Leistung «erkauft» habe.
Mich manchmal eher so verhalte, dass er mir gegenüber gar nicht barmherzig sein
müsste. Und andersrum merke ich dann, wie ich abwäge, aufrechne, mein Herz
verschliesse und meine zu wissen, wer was verdient hat. Das hilft mir, mein Herz
neu zu öffnen und den Menschen wieder barmherziger zu begegnen.
Im Gespräch mit den Obdachlosen
höre ich immer wieder, mit welchen Aussagen sie sich konfrontieren müssen.
Passanten sagen ihnen: «Selbst schuld! Niemand muss in Deutschland auf der
Strasse schlafen!»
Ein weiteres Klischee ist: «Jeder
Euro wird sowieso in die nächste Flasche Schnaps investiert und ich möchte
nicht für die Sucht anderer Leute verantwortlich beziehungsweise unterstützend
tätig sein. Jede/r ist irgendwo entwicklungsfähig, und jede/r sollte jedenfalls
versuchen, mit den Mitteln und Möglichkeiten, die ihm/ihr zur Verfügung stehen,
einfach etwas weiterzukommen.»
Der Massstab der Barmherzigkeit
sind nicht wir selbst, sondern ist die Not des Anderen. Der Ursprung der
Barmherzigkeit liegt nicht in uns, sondern stammt von Gott selbst. Jesus hätte
wohl gesagt: «Hört mit dem Mosern auf. Zeigt eure Solidarität mit den
Bedürftigen. Gebt denen, die weniger haben als ihr selbst. Zeigt ihnen die
Liebe und Barmherzigkeit Gottes durch eure eigene Barmherzigkeit.»
Und vielleicht ist es der erste
Schritt, dass ich mir sage, dass ich Gottes Barmherzigkeit nicht verdient habe,
weil ich meines Erachtens nach mein Leben besonders im Griff habe, nicht auf der
Strasse lebe und ein an und für sich anständiges Leben führe, sondern weil er
mich aus Gnade liebt. Jeden Menschen. Bedingungslos. Vielleicht kann ich mit
anderen deshalb nicht barmherzig sein, ihnen mein Herz öffnen, weil ich mir
selbst gegenüber nicht barmherzig bin, die Messlatte bei mir selbst hoch
angelegt habe.
Weil ich weiss, dass Gott sich
durch nichts, durch keine Gewalt, keine Bosheit und keine Enttäuschung davon
abhalten lässt, für mich da zu sein und für mich ein offenes Herz zu haben und
mir durch sein Handeln zu helfen, deswegen soll auch ich mich von der Not
anderer betreffen lassen. Deswegen soll auch ich mit offenen Augen durch diese
Welt gehen und mich von dem zutiefst treffen lassen, was Menschen an Leid,
Elend und Schmerz tagtäglich auszuhalten haben. Aber: Wie sieht sinnvolle Hilfe
aus? Auch das empfinden Menschen unterschiedlich.
Impuls zur Barmherzigkeit
Vielleicht hilft es Ihnen, erst
einmal klein anzufangen. Mal wieder mit offenen Augen, aufmerksam durch Ihr
Viertel, Ihren Ort, Ihre Stadt zu gehen und zu schauen wo Ihnen Menschen in Not
begegnen. Und ja, Not hat viele Facetten. Spüren Sie auf dem Weg nach, wo Ihnen
eine Begegnung zu Herzen gegangen ist, wo Sie eine offensichtliche Not
schmerzlich getroffen und berührt hat. Und dann überlegen Sie sich: Was können
Sie tun, wie können Sie dieser Person helfen? Mit dem Wissen, dass man nicht
allen gleichzeitig helfen kann, ist es gut, sich erst einmal einem Menschen
anzunehmen. Welche Möglichkeiten haben Sie?
Es gibt aus meiner Sicht keine
Verpflichtung, an welcher Stelle man das tut. Ob das in der Nachbarschaft ist
oder – wie bei mir – im Bereich der Obdachlosigkeit, das muss dann jede/r nach
seinem/ihrem Empfinden für sich selbst entscheiden. Aber ich bin überzeugt
davon, dass jede/r von uns eine Möglichkeit hat zu helfen. Dabei muss es sich
auch nicht immer um eine Geldspende handeln. Und vor allem kann jede/r schauen
und überlegen, wer ihn/sie bei seinem/ihrem Vorhaben unterstützen könnte. Können Sie
vielleicht in der Gemeinde eine Task-Force gründen und gemeinsam Schritte
überlegen? Sich Menschen suchen, die das Anliegen mittragen, mit anpacken und
etwas verändern wollen? Ich möchte Sie ermutigen, die Scheuklappen abzulegen.
Sich darauf einzulassen. Fragen zu stellen. Was zählt, ist letztlich eine
grundsätzliche Bereitschaft, Menschen in Notsituationen wahrzunehmen und sie zu
unterstützen. Barmherzigkeit heisst eben auch, sich «durchlässig» zu machen für
das Leid von Menschen, die man überhaupt nicht kennt, denen man vielleicht
zufällig begegnet. Und das ist – vorsichtig gesagt – nicht ganz einfach.
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