Die meisten Freikirchen befinden sich in der Stadt. Viele ihrer
Mitglieder leben aber auf dem Land. Corona hat den Trend zurück aufs
Land noch verstärkt. Höchste Zeit also, sich zusammen mit dem
Missiologen Johannes Reimer Gedanken zu machen, wie vor Ort christliche
Gemeinschaften entstehen und wie diese ihr Dorf heilsam prägen können.
Johannes
Reimer, Professor für Missionswissenschaft und Interkulturelle
Theologie an der Theologischen Hochschule Ewersbach, doziert vor seinen
Studierenden über Gemeindebau und Evangelisation; gleichzeitig lebt er
aber auch, was er sagt.
Er war Mitglied einer Gruppe aus zwei
Ehepaaren und fünf Freunden, die sich 1999 entschloss, in der
1891-Seelen-Gemeinde Brüchermühle (Teil von Reichshof,
Nordrhein-Westfalen) eine christliche Gemeinde zu gründen. Die
Infrastruktur des Dorfes war damals noch einigermassen intakt, der
Zerfall hatte aber bereits begonnen. Das Ziel der Gruppe war es nun aber
nicht, «ein attraktives Gemeindezentrum mit frommen Programmen
aufzubauen», sie wollte «die Verbreitung des Evangeliums und das
Transformieren der Gesellschaft vor Ort» fördern, wie Reimer in seinem Buch «Gottes Herz für dein Dorf» schreibt. Diese
Verbindung von Gemeindebau und dem missionarisch-diakonischen Eingreifen
in die unmittelbare Umgebung ist der rote Faden dieses bemerkenswerten
Buches.
Eine Kirche für das Dorf
Ausgangspunkt
der Gruppe war die Orientierung an den Begabungen der einzelnen
Mitglieder – und zwar im Abgleich mit den Bedürfnissen und Nöten der
Dorfbevölkerung. In dieser Schnittmenge lag für sie ihr Auftrag und
Dienst. Die kleine freikirchliche Gemeinschaft verliess deshalb bewusst
die privaten Wohnzimmer und zog um in öffentliche Räume. Sie begann eine
Arbeit unter Drogenabhängigen, von Anfang an vernetzt mit
Bewährungshelfern und den zuständigen Ämtern.
Schon nach wenigen
Monaten legte die kleine Gruppe dem Bürgermeister den Entwurf «einer
Kirche fürs Dorf» vor. Unter anderem mit dem Vorschlag, das
zerfallende alte Schwimmbad in ein Gemeindezentrum zu verwandeln, das
nicht nur der Freikirche dienen, sondern auch zu einem Ort für das
gesellschaftliche Leben des Dorfes werden sollte. Im Konzept waren
deshalb Outdoor-Aktivitäten wie eine Grillstelle, ein Spielplatz und ein
Volleyballplatz vorgesehen. «Es sollte ein Dorfzentrum entstehen, das
als säkularer Treffpunkt in der Woche auf die Bedürfnisse der
Dorfbewohner eingestellt ist und am Sonntag einen Gottesdienst anbietet.» Hier erhielt der lokale Fussballverein Räume, der
Gesangsverein konnte Konzerte aufführen, es gab schon bald eine Musik-,
Ballet- und Malschule für Kinder, Kurse für Jugendliche ohne
Schulabschluss, eine Beschäftigungsgesellschaft für Arbeitslose und
Gymnastikkurse für Frauen.
Diese Angebote wurden nicht nur von
Christen erbracht, sondern zusammen mit der ganzen Dorfbevölkerung
gestaltet. Die Freikirche wollte eine Gemeinde für die Menschen vor Ort
sein, eine «Gemeinde für andere». Ihre Mitglieder machten
deshalb im Bürgerverein mit, spielten im lokalen Fussballklub und die
Freikirche trat als Sponsor für den Sportverein des Dorfes auf. So
wurden Kontakte geknüpft, Interesse und Offenheit für den Glauben
geschaffen und Berührungsängste gegenüber der Kirche abgebaut.
Fruchtbare Beziehungen
Einschreiben für den Dorfentwicklungsprozess in Oberdiessbach
Die
Frucht dieser Kombination aus kirchlichem Gemeindebau und einer
werteorientierten Ortsentwicklung lässt sich sehen. Innert sechs Jahren
schlossen sich 251 Menschen dieser christlichen Gemeinde an, wovon 214
dort zum Glauben kamen und sich taufen liessen. Übertritte bzw.
Überweisungen aus anderen Kirchen waren konzeptionell nicht vorgesehen.
Als
entscheidender Faktor erwies sich die gute Beziehung zwischen Christen
und Noch-nicht-Christen. In einer Welt, in der viele Noch-nicht-Christen
inzwischen annehmen, dass Gott sie ablehnt, ist es wichtig, eine andere
Botschaft zu vermitteln, sagen die Initianten dazu: «Wir wollen
Menschen helfen, den Kontakt zu einem Gott zu suchen, der sie sucht und
ihre Freundschaft begehrt.» Dafür braucht es neben der
Ortsentwicklung auch Orte und Gelegenheiten, wo diese Menschen Christus
entdecken können. «Die Gesellschaft braucht Gelegenheiten, bei denen
Christen und Noch-nicht-Christen, die mehr über das Evangelium erfahren
wollen, sich in einer nicht-bedrohlichen Umgebung treffen können, in der
sie respektiert werden.»
Dafür eignen sich neben dem
Gottesdienst auch evangelistische Gesprächskreise oder
zielgruppenspezifische Angebote für Menschen in unterschiedlichen
Lebensphasen und -situationen. Dabei sollte aber nicht jeder Anlass zu
einem evangelistischen Feldzug werden. Es geht einfach mal darum, den
«gemeinsamen Lebensraum» im Dorf zu geniessen. Denn: «Gespräche
über den Glauben gestalten sich in einer echten Freundschaft aus dem
Alltag heraus und nicht aus einem Zwang, andere bekehren zu wollen.»
Alles beginnt in der Familie
Das
entscheidende strategische Werkzeug ist in den Augen von Reimer die
Familie. Das beginnt bereits in der einzelnen Familie, frei nach dem
Motto: «Was im Dorf leuchten soll, muss in der Familie angezündet
werden.» Die Familie ist für ihn «die alles entscheidende Grundeinheit
in der Heilsökonomie Gottes». Er erinnert in diesem
Zusammenhang an die ersten Christen und ihre Gastfreundschaft. «Es war
diese Gastfreundschaft, die wesentlich zum Siegeszug des Evangeliums in
den ersten Jahrhunderten der christlichen Geschichte beitrug.»
Drei
bis vier Familien, die in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander leben,
sollen sich, wo möglich zusammen mit Alleinstehenden und älteren
Menschen, zu Familien-Clustern zusammenschliessen. Hier sei es am
einfachsten möglich, die Berufung, Begabung und Platzanweisung aller –
auch der Kinder – zu erkennen. In dieser kleinen Gemeindezelle könne
Transparenz in den Beziehungen eingeübt werden, aber auch die
gegenseitige Unterstützung nach dem Leib-Prinzip. Hier sei es auf
kleinem Raum möglich, «echte Spiritualität» einzuüben: «Leben im Alltag
mit Gott und aus der Kraft Gottes.» Und schliesslich gehe es
dann im Familien-Cluster auch «um die gemeinsame Mission in Wort und
Tat», im Blick seien dabei vor allem die Nachbarn. Eine solche
Familiengruppe könne dann einmal im Monat gemeinsam Gottesdienst feiern.
Wichtig sei es aber, dass die verschiedenen Familien-Cluster in die
lokale Gemeinde eingebunden blieben, allenfalls auch in ein grösseres
Gemeindenetz. Ebenso sollten unbedingt auch öffentlich zugängliche
Gottesdienste vor Ort angeboten werden.
Wie anfangen?
Wer
aufs Land in ein Dorf zieht, sollte meiner Meinung nach zuerst
abklären, was es an christlichen Gemeinden vor Ort schon gibt. Und dabei
am besten zuerst in der örtlichen Landeskirche vorbeischauen, die ja
bereits parochialund damit für die Ortsentwicklung ideal
aufgestellt ist. Die meisten Kirchgemeinden wären wohl froh um solche
Familiengruppen, die mithelfen, die Kirche weiterzubringen, auch im
evangelistischen und diakonischen Auftrag für das Dorf. Manchmal braucht
es für die Neuausrichtung einer alten Kirche auch etwas Geduld. Und im
Notfall ist halt auch mal ein ganz neuer Anfang nötig, vorerst neben der
Kirche.
Wenn es gelingt, die Freikirche vor Ort für ihre
unmittelbare Umgebung zu sensibilisieren, ist auch sie eine ideale Basis
für örtliche Transformationsprozesse. Unter Umständen wird es nötig
sein, bestehende Strukturen aufzubrechen und die Menschen zu ermutigen,
ganz bewusst nicht mehr oder nicht nur in die Ferne zum Gottesdienst zu
fahren, sondern vor Ort Familien-Cluster zu gründen. Diese sollten aber
in der Regel zumindest zu Beginn im Kontakt mit der Muttergemeinde
bleiben. Netzwerke wie die Evangelische Allianz, die Arbeitsgemeinschaft
christlicher Kirchen, regelmässige Quartiergebete und
interkonfessionelle Christentreffen für das Dorf können helfen, die
heilsamen Prozesse für die Ortsentwicklung zu koordinieren und zu
ermutigen.
Kurz und gut: Der Missiologe Johannes Reimer schildert
in seinem Buch theologisch präzise begründet und praktisch illustriert
die zwei Grundaufträge einer christlichen Gemeinde: Das Fördern von
Christinnen und Christen innerhalb der christlichen Gemeinschaft – und
das kreative Wahrnehmen der evangelistisch-diakonischen Aufgaben im
Dorf. Für alle, die in Städten leben, gibt es übrigens eine gute
Nachricht: Auch für sie hat derselbe Autor ein Buch geschrieben!
Und
die zweite gute Nachricht: Im Schweizer Netzwerk für «Werteorientierte
Dorf-, Regional- und Stadtentwicklung» (WDRS) ist rund um die
Ortsentwicklung im christlichen Geist (auch in der Stadt) viel Wissen
und Erfahrung zusammengefasst. Im entsprechenden Newsletter
werden ca. zwei Mal im Jahr gute Beispiele und Prinzipien aufgegriffen.
Manchmal gibt es auch Seminare und Tagungen, die das Anliegen
aufgreifen, in der Regel gleich zusammen mit einer christlichen oder
politischen Gemeinde, die in diesem Sinne unterwegs ist.
Wichtig
bleibt so oder so unsere innere Ausrichtung. Der
Gemeindeaufbau-Spezialist Christian Möller schreibt gleich zu Beginn des
Buches: «Die Fixierung auf den Mangel beschreibt nicht nur Fakten, sie
schafft auch Fakten. Gemeinde muss auch erglaubt werden.» Wir
brauchen also «Glaubensmut», wenn wir uns neu oder immer wieder der
christlichen Gemeinde und der Bevölkerung im Dorf zuwenden wollen.
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