Wenn in einem Konflikt nur noch die Sprache der Waffen spricht, droht die Stimme des Friedens zu verstummen. Im Angesicht des Schreckens, den jeder Krieg mit sich bringt, wirkt der Ruf zur Feindesliebe schnell nur noch als grosse Unmöglichkeit.
Als mennonitischer Theologe gehöre ich zur Tradition der Historischen
Friedenskirchen und ringe in unseren Tagen um eine angemessene
christliche Friedensethik. Dabei
kann es nicht darum gehen, von anderen Menschen Feindesliebe
einzufordern. Schon gar nicht, wenn ich selbst von genau diesen Feinden
nicht bedroht bin. Ein verantwortungsbewusster Pazifismus anerkennt im
Gebot der Feindesliebe die Realität einer vorhandenen Feindschaft.
Dietrich Bonhoeffer erinnert in seiner Auslegung der Bergpredigt daher
zu Recht daran, dass die Begegnung mit einem Feind stets das
«Ausserordentliche» fordert (Bonhoeffer, Dietrich. «Nachfolge.» München 1983, S. 120–129). Die Zumutung, den Feind zu
lieben, muss daher bereits in «friedlichen» Zeiten eingeübt werden. Ohne Matthäus, Kapitel 5, Verse 43–48 mit einer privatisierenden Auslegung den Stachel zu
ziehen, beginnt die Feindesliebe für mich deshalb bereits im
alltäglichen Miteinander, wo wir meist gar nicht explizit von Feinden
sprechen.
Das gewohnte Modell: Wie du mir, so ich dir
Mit dem Satz «Wenn ihr die liebt, die euch lieben»
beschreibt Jesus ein gängiges Verhalten: «Wie du mir, so ich dir.»
Diese einfache Formel ist grundlegend für das menschliche Zusammenleben.
Als Beziehungswesen sind wir in unserem Miteinander darauf angewiesen,
eine gesunde Balance zwischen Geben und Nehmen herzustellen.
Dabei
spielt das «Reziprozitätsprinzip» eine wichtige Rolle: «Wie du mir, so
ich dir.» Das üben wir alle seit frühester Kindheit ein. Unsere privaten
Beziehungen leben von Formen der Gegenseitigkeit genauso wie die
politische Arbeit oder unser Wirtschaftsleben: Ich gebe dir etwas und
bekomme etwas Gleichwertiges zurück. Das funktioniert gut, solange sich
alle an die Spielregeln halten.
Problematisch wird es, wenn das
Gleichgewicht nicht mehr stimmt. Was geschieht, wenn jemand nicht das
zurückerhält, was er aufgrund seiner Leistung erwarten könnte? Vielfach
ändert sich am Prinzip gar nichts. Es gilt auch jetzt: «Wie du mir, so
ich dir. Wenn du nicht gibst, dann gebe ich auch nicht mehr.» Oder im
Blick auf die Worte Jesu: «Wenn du mich nicht liebst, dann liebe ich
dich auch nicht.» Ja, oft geht es gar noch weiter: «Wenn du zu mir
gemein bist, dann bin ich es jetzt auch. Wenn du mich betrügst, dann
betrüge ich dich auch. Wenn du mich schlägst, dann schlage ich auch.»
Die Folge ist eine oft fatale Konfliktspirale, aus der man sich kaum
befreien kann.
Wenn wir strikt dem Prinzip der Gegenseitigkeit
folgen, reagieren wir nur. Wir warten ab, schauen, was das Gegenüber
macht – und zahlen mit gleicher Münze heim. Sicher: Positives Verhalten
wird dadurch gestärkt, aber wehe, wenn sich einmal ein negatives Muster
entwickelt hat. Langjährige Familienstreitigkeiten, endlose
Nachbarschaftsfehden und anhaltende politische Krisen zeugen von dieser
destruktiven Macht.
Das ausserordentliche Modell: Ein grosszügiges Geschenk
Hier
setzt das Ausserordentliche ein. Einen Menschen zu lieben, der uns
liebt – das ist völlig okay, sagt Jesus. Aber das tun alle. Sogar die
Zöllner, die damals als besonders skrupellos galten, taten es, zumindest
wenn es um den eigenen Vorteil ging. Ihr aber – sagt Jesus zu den
Menschen, die ihm nachfolgen – ihr sollt anders leben. Durchbrecht das
«Wie du mir, so ich dir»-Prinzip. Seid stattdessen grosszügig. Liebt,
ganz egal, ob ihr geliebt werdet oder nicht. Ganz egal, ob der andere es
verdient oder nicht. Ihr schafft damit die Möglichkeit, dass andere
eure Liebe positiv beantworten könnten. Ihr öffnet eine Tür für neue
Handlungsoptionen. Ob das Gegenüber durch diese Türe eintritt, ist nicht
euer Problem. Sorgt aber dafür, dass die Türe offen ist.
Jesus
fordert damit eine Grosszügigkeit, die bereit ist, auch dem Feind das
Geschenk der Liebe zu machen. Der kroatische Theologe Miroslav Volf hat
ein wirkliches Geschenk einmal sinngemäss so definiert: Ein Geschenk
geben wir erst dann, wenn wir ein klein wenig mehr geben, als wir
zurückerwarten (Volf, Miroslav. «Umsonst. Geben und Vergeben in einer gnadenlosen Kultur.» Giessen 2012, S. 129). Von einem solchen Geschenk spricht Jesus
hier. Ein Geschenk nicht nur für den Freund, sondern auch für den Feind,
der je feindlicher desto mehr meine Liebe fordert (Bonhoeffer, Dietrich. «Nachfolge.» München 1983, S. 123).
Das Risiko der Feindesliebe
Wenn
in unserer Gesellschaft eine zunehmende Polarisierung bis hin zu
offener Feindschaft beklagt wird, stellt sich die Frage, ob es gelingt,
das unheilvolle Prinzip der Gegenseitigkeit zu durchbrechen. Dazu
braucht es wohl Menschen, die auf die Worte Jesu hören: «Liebt eure
Feinde!». – «Seid grosszügig und macht nicht alles davon
abhängig, ob es sich lohnt oder nicht. Wagt den ersten Schritt und
öffnet Türen für neue Begegnungen.»
Natürlich bedeutet dies nicht,
dass man immer alles schweigend hinnehmen muss. Aber als Grundhaltung
bleibt diese Grosszügigkeit eine Zumutung, denn wieso sollte man so
etwas Verrücktes tun? Die Antwort von Jesus ist erstaunlich einfach:
Gott handelt so. «Er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und
lässt regnen über Gerechte und Ungerechte». Gott schenkt seine Liebe vorbehaltlos allen – und geht dabei das Risiko ein, dass sie ausgenutzt wird.
Als
Christinnen und Christen loben wir diesen grosszügigen Gott. Wir sind
aber auch Kanäle, durch die Gottes Liebe in die Welt fliessen will.
Handlungsleitend ist dann nicht «wie du mir, so ich dir», sondern «wie
Gott mir, so ich dir». In diesem Sinn mutet uns das Gebot der
Feindesliebe zu, «in Gemeinschaft mit anderen nach Wegen zu suchen, auf
denen Feindschaften abgebaut, Kriege verhütet, Konflikte anders als
durch gewaltsame Unterwerfung gelöst werden können» (Huber, Wolfgang. «Feindschaft und Feindesliebe. Notizen zum
Problem des 'Feindes' in der Theologie.» In: ZEE 26 (1982), 1, S.
128–158, hier S. 157.).
Und
sollte dies nicht fruchten, dürfen wir als Kirche die Anweisungen Jesu
nicht als unbrauchbar über Bord werfen. Im Gegenteil: Gerade dann sind
wir gefordert, unsere Feinde zu lieben, um in aller Gebrochenheit die
Vollkommenheit des himmlischen Vaters nachzuahmen.
Zum Autor:
Lukas Amstutz ist mennonitischer Theologe und leitet das friedenskirchliche Bildungszentrum Bienenberg in Liestal.
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