In der Studium Generale-Reihe «Menschenrechte zwischen Anspruch und Wirklichkeit» organisierte Amnesty International eine Podiumsdiskussion in der Universität Tübingen.
Podiumsgespräch an der Uni Tübingen mit (von links) Prof. Bormann, E. Flügge, Prof. Schirrmacher, Prof. Hamdan.
Das Podiumsgespräch fand zwischen dem Tübinger katholischen Moraltheologen Franz-Josef Bormann, dem Leiter der islamischen Ausbildung an der Universität Tübingen Omar Hamdan und dem evangelischen Religionssoziologen Thomas Schirrmacher vom Internationalen Institut für Religionsfreiheit statt.
Omar Hamdan, Professor für Koranwissenschaft, unterstrich vor allem den Unterschied zwischen Muslimen, die unter einem islamischen Staat leben, der die Scharia umsetze, und Muslimen, die in nicht-islamischen Ländern leben und sich dort «natürlich», so jedenfalls Hamdans Auffassung, der vorgegebenen staatlichen Ordnung einfügen dürften, wobei auch die Menschenrechte eine zentrale Rolle spielten. Mit zahlreichen Lesungen aus dem Koran belegte er, dass Frauen, Juden und Christen im Koran oft sehr positiv gesehen werden.
Aus der Vernunft
Bormann vertrat, dass die Begründung der Menschenrechte aus der Vernunft, nicht aus dem christlichen Glauben heraus geschehen sollte, da nur so die Gemeinsamkeit mit allen Menschen gewährleistet sei und sie nur so einsichtig Vorrang vor allem anderen hätten. Die Menschenrechte seien nicht westlich, sondern vernünftig, aber die Einsicht, dass Menschen nur aufgrund der gemeinsamen Vernunft miteinander einen Weg finden könnten, sei bei uns seit der Aufklärung stark verankert, in einigen Kulturbereichen aber noch recht fremd. Als Ergebnis der Vernunft stünden die Menschenrechte über allen religiösen Offenbarungen, auch der biblischen oder christlichen.
Sich an Menschenwürde messen
Laut Schirrmacher sind Menschenrechte zunächst einmal vorstaatlich, weil das Menschsein allem anderen, auch allen Institutionen und Weltanschauungen, vorausgehe. Er wollte aber – im Gegensatz zu seinen Mitdiskutanten – eine vernünftige Begründung hier und eine Begründung aus der eigenen Religion heraus dort nicht gegeneinander stellen.
Dabei sei aber wichtig, dass religiöse Menschen von Ihren Würdenträgern sehr schnell und sehr deutlich zu hören bekämen, dass Menschenrechte einzuhalten und sich gegen Menschenrechtsverletzungen einzusetzen, Teil der eigenen Religion und Überzeugung sei und zu den Grundwerten des eigenen Glaubens gehöre. Jede Religion und jede religiöse Gruppierung müsse sich daran messen lassen, ob sie die Menschenwürde fördere oder einschränke.
Warum «Menschenrechte»?
Thomas Schirrmacher ist Theologe und Religionssoziologe sowie Autor des Buches «Menschenrechte». In einem Interview geht er auf die Fragestellung ein: «Brauchen wir eine religiöse Begründung der Menschenrechte?»
Gelten Menschenrechte überall? Thomas Schirrmacher:Die Idee der Menschenrechte ist schon etwas Merkwürdiges. Während sich einerseits niemand auf eine gemeinsame Begründung einigen kann und jede Detailfrage Gegenstand heftiger internationaler Auseinandersetzungen ist, sind sie andererseits fast das einzige, was die freie Welt zusammenhält, ja, was weit darüber hinaus, und sei es nur als Lippenbekenntnis, die Menschheit eint. Ausser Saudi Arabien, Myanmar, Fidschi, Tonga, Brunei und dem Vatikanstaat bezeichnen sich alle anderen Länder der Erde als Demokratien mit Menschenrechtsstandards, der Vatikan ist zudem einer der Vorkämpfer der Menschenrechte.
Was ist denn heute anders als früher? Menschen haben immer schon Menschen schikaniert, gequält, diskriminiert, versklavt, vergewaltigt und umgebracht. Die Unterdrückung von Religions- oder Meinungsfreiheit, die Anwendung von Folter in Krieg und Gerichtsverfahren oder die Unterdrückung der Frau waren jahrtausendelang völlig normal.
War es aber früher selbstverständlich, dass siegende Heere plünderten, Frauen vergewaltigten und Menschen aus ihren Häusern vertrieben, wird heute von Menschenrechtsorganisationen akribisch mitgezählt, und die Vorgänge können weltweit angeprangert oder sogar als Kriegsverbrechen vor ein internationales Gericht gestellt werden. Während früher Kinder wie selbstverständlich schwer geschlagen wurden und arbeiten mussten, sind sie heute Träger eigener Rechte und ihr Wohl verbietet entwürdigende Erziehungsmethoden und ihre Ausbeutung.
Warum nennt man Menschenrechte «Menschenrechte»? Der Name «Menschenrechte» ist genial, kann man aus ihm doch die wichtigsten Kennzeichen der Menschenrechte ableiten.
Menschenrechte sind universal, sie gelten eben für alle «Menschen»; Menschenrechte sind individuell, da es den «Menschen» eben nur als einzelnen «Menschen» gibt; sie sind aber auch sozial, da es nie nur einen Menschen gibt, sondern immer nur die «Menschen» und die Rechte für alle zugleich gelten.
Sie sind egalitär, weil sie sich aus dem allen gleichen Menschsein ableiten, nicht aus etwas, das Menschen unterscheidet oder verliehen wird; Menschenrechte sind vorstaatlich, weil das Menschsein allem anderen vorausgeht; Menschenrechte sind einklagbar, sind also nicht nur Feststellungen, Appelle oder Forderungen, sondern eben «Rechte».
Sie sind unteilbar, weil die Menschen selbst unteilbar sind und der Mensch im Mittelpunkt steht, nicht ein System oder eine Ideologie; und sie sind notstandsfest, da der Mensch auch in schlimmsten Lagen, selbst als Straftäter, Mensch bleibt.
Warum spricht man vom «Begründungsdefizit» der Menschenrechte? «Menschenrechte sind ewig, unabänderlich und gelten überall», sagt ein modernes Jugendbuch. «Amen», will man da ob der religiösen Sprache sagen. «Als Naturrecht steht das Menschenrecht dabei über dem Staat.» Auch das ist religiöse Sprache oder zumindest metaphysische und erstaunlich angesichts des Umstandes, dass allerorten das Naturrecht als überholt gilt.
Doch wer solche Sprache ablehnt, übersieht, dass die Existenz überstaatlicher, alle Menschen verpflichtender Normen erst einmal begründet werden muss. In der Realität wird darauf entweder einfach verzichtet, die Begründung steht auf wackeligen Füssen oder sie gilt nur für bestimmte Religionen oder Weltanschauungen.
Von daher ergibt sich das unglaubliche «Begründungsdefizit» der UNO-Menschenrechtserklärung. Nirgends findet sich eine Herleitung oder Begründung der Menschenrechte, die halbwegs universal akzeptiert ist. Wenn es aber keine Rückbindung der Menschenrechtskataloge an irgendeine höhere Instanz gibt, sind die Menschenrechte eben nur das Ergebnis einer Abstimmung und gelten nur, solange ihnen zugestimmt wird.
Umstritten ist sowohl, woraus sich die Existenz von Menschenrechten an sich ableitet, als auch, welche Menschenrechte es denn im Einzelnen gibt und wie sie zueinander stehen, beziehungsweise welche im Konfliktfall Vorrang haben. Es gibt keinen vereinbarten Kanon unverzichtbarer oder fundamentaler Menschenrechte.
Aber es sind doch alle für die «Menschenwürde»! Die den Menschenrechten zugrunde liegende Idee der Menschenwürde ist merkwürdig vage und ohne universal akzeptierte Begründung, zugleich aber eine der wirkungsvollsten Ideen der Weltgeschichte. Während etwa in der angelsächsischen Philosophie und Diskussion die Menschenrechte mit grosser Selbstverständlichkeit als moralische Rechte angesehen werden, lehnt die deutsche Diskussion dies fast einhellig ab. Jürgen Habermas etwa lehnt so etwas wie die moralische Geltung von Rechten, auch von Menschenrechten, grundsätzlich ab.
Brauchen wir eine religiöse Begründung der Menschenrechte? Einerseits müssen die Menschenrechte natürlich nicht nur allen Staaten, sondern auch allen Religionen und Weltanschauungen vorgeordnet sein, sonst funktionieren sie nicht. Auch die christlichen Kirchen dürfen sie nicht für sich vereinnahmen. Immerhin sind die Menschenrechte nicht immer mit den Kirchen zusammen durchgesetzt worden, wie in den USA, sondern oft eben auch gegen die Kirchen erstritten worden, wie in Frankreich.
So sehr ich als christlicher Theologe und Religionssoziologe wiederholt eine christliche Begründung der Menschenrechte vorgelegt habe und so sehr ich davon überzeugt bin, dass geschichtlich gesehen zentrale Elemente der Menschenrechtsidee aus der jüdisch-christlichen Tradition stammen, so sehr gilt doch auch:
Niemand kann daran interessiert sein, dass der andere die Menschenrechtsidee ablehnt, weil er die eigene Religion oder Weltanschauung ablehnt.
Pragmatismus im Sinne der Berufung auf die Menschenrechte aus einem allgemein menschlichen Gefühl und der immer stärker werdenden positiven Erfahrung mit der Menschenrechtspraxis ist nicht das Schlechteste, wenn es ein menschenwürdiges Leben ermöglicht.
Und schliesslich: Mir ist lieber, dass jemand die Menschenrechte begrüsst, ja einhält, und nicht genau weiss, wieso, als dass ihn seine Ablehnung einer bestimmten Begründung dazu bringt, dass er sich zu Menschenrechtsverletzungen berechtigt glaubt.
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