Beweist der Sieg des österreichischen «Travestiekünstlers» Conchita Wurst am European Song Contest (ESC) die unaufhaltsame Dekadenz Westeuropas? Vielleicht, aber es gibt auch andere Erklärungen für den Erfolg.
Conchita Wurst am European Song Contest 2014
Je nach Herkunft und Ausrichtung sehen Medienkommentatoren, Kirchen und Organisationen im Erfolg des österreichischen Transvestiten Thomas Neuwirth einen Skandal, den Beweis für den moralischen Verfall Westeuropas, eine politische Demonstration gegen die Aggression Russlands in der Ukraine oder auch einen Erfolg vom Schwulen-Lobbyismus und einen erfolgreichen kommerziellen Trick.
Erste Medienkommentare feierten den Sieg von «Conchita Wurst» als Sieg der Toleranz gegen religiöse und ideologische Rückständigkeit. Mit etwas mehr Distanz zog dann auch das satirische Element ein wie bei 10vor10 am Montag. Vieles wirkt ja etwas skurril am Mann, der sich als Lady mit langem Haar, roten Lippen, aufgeklebten Augenwimpern – und Bart – präsentierte. Und der gefeiert wurde, während die zwei Mädchen aus Russland stellvertretend für ihren Regierungschef Putin Pfiffe ernteten, wenn sie punkteten.
Legitimierung moderner Laster ...
Für «Conchita Wurst» hat der Auftritt durchaus Nebenabsichten. Er hoffe, Homo-, Bi- und Transsexuelle in aller Welt würden nun in ihrem Kampf für Menschenrechte stärker, liess er nach dem ESC verlauten. Die Provokation ist nicht allein ein Erfolgsrezept in einer Welt, die schräge Aufführungen liebt, sondern will auch etwas verändern. Sie hat es geschafft, den kulturellen Graben zwischen Ost und West aufzureissen. In Österreich selbst sprach das konservative katholische Internetportal «Katholisches.info – Magazin für Kirche und Kultur» von einer «Schande für Österreich» und nannte «Conchita Wurst» ein «ideologisches Produkt».
In Russland, das man auch politisch abstrafen wollte, reagierte man prompt. Ein TV-Moderator sprach vom «Begräbnis traditioneller Werte». Politiker kritisierten die Propaganda für Homosexualität und beklagten die «geistliche Verderbnis». Auch die Russisch-Orthodoxe Kirche stimmte in den Tadel ein. Der Sprecher der Moskauer Patriarchates, Wladimir Legoida, sprach von einer «Absage an die christliche Identität der europäischen Kultur». Es handle sich um ein weiteres Glied in der Kette der «kulturellen Legitimierung von Lastern in der modernen Welt».
... oder geschickte Vermarktung?
Moderater fielen kirchliche Reaktionen in Deutschland aus. Der Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) der EKD, Reinhard Hempelmann, sagte gegenüber idea, dass die «Kunstfigur» sich nicht eigne, im Meinungsstreit instrumentalisiert zu werden: «Der provokative und skurrile Auftritt sucht Aufmerksamkeit und ist an Erfolgs- und Vermarktungsinteressen orientiert. Er taugt nicht, daraus Urteile über wachsende Toleranz oder einen drohenden europäischen Kulturverfall abzuleiten.»
Ähnlich der Direktor der Evangelischen Akademie im Rheinland, Frank Vogelsang, der Neuwirths Sieg nicht überbewerten will. Die Veranstaltung sei in der westlichen Öffentlichkeit aufgrund der angespannten politischen Lage zwischen Russland und der Ukraine politisch aufgeladen worden. «Man sieht im Westen in dem Travestiekünstler ein Symbol, dass man dem konservativen Grossmachtstreben Russland entgegenstellen kann», so Vogelsang gegenüber idea. Deswegen hätten auch viele Personen sich nach dem Wettbewerb ebenfalls einen Vollbart aufgemalt oder angeklebt, um so gegen Russland zu protestieren. Und er hofft gar, dass der Sieg des österreichischen Transvestiten dazu führe, dass in der Europäischen Union verstärkt über Werte nachgedacht werde.
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