Wie wollen wir die Herausforderungen der Zukunft meistern, wenn wir nicht mehr wissen, woher wir kommen? Wie wollen wir Zugewanderte integrieren, wenn wir selbst kaum noch wissen, wer wir sind, was uns wichtig ist und wohin unsere Reise gehen soll? Der reformierte Pfarrer Jürgen Neidhart hat sich für idea Spektrum darüber Gedanken gemacht.
Ab und zu teste ich mein Allgemeinwissen. Dazu mache ich bei Günther Jauchs «Wer wird Millionär» mit – natürlich zu Hause am Fernseher. Vor einiger Zeit stellte Moderator Jauch in der Qualifikationsrunde seinen Kandidaten folgende Aufgabe: «Bringen Sie diese Wörter in die Reihenfolge, in der sie im Vaterunser-Gebet auftauchen: Name, Wille, Himmel, Reich.» Keiner der Kandidaten schaffte es! Ich war schockiert. Ein anderes Mal wurden den Kandidaten die ersten vier der Zehn Gebote gezeigt und sie sollten sie in die richtige Reihenfolge bringen – 1., 2., 3. und 4. Gebot. Eigentlich keine schwere Hürde, sollte man meinen. Aber das Ergebnis war, dass keiner der Kandidaten die Gebote richtig ordnen konnte. Grundlegende Bibelkenntnisse waren offensichtlich nicht vorhanden.
Keine Ahnung mehr von den Zehn Geboten
Jürgen Neidhart
Zuvor hatten viele Generationen die Zehn Gebote auswendig gelernt. Im Privaten wie im öffentlichen Leben galten sie als Richtschnur und Leitlinie für das gelingende Zusammenleben der Menschen. Die Geschichte des Abendlandes und auch die der Schweiz ist ohne Gottes Gebote nicht zu verstehen. Doch zunehmend ist diese ethisch-moralische Grundlage unserer Gesellschaft verdampft. Damit sind uns die gemeinsamen, tragenden Werte entglitten. Das ist tragisch.
Ich mache mir Sorgen um die Schweiz. Ich mache mir Sorgen um unser Land. Denn bei allem wirtschaftlichen Aufschwung, bei allen sozialen Errungenschaften, bei all den günstigen Bedingungen, die wir immer noch in unserem Land haben, sind wir wertemässig entwurzelt. In einer repräsentativen Umfrage des Beobachters zum Thema «Werte» vor rund fünf Jahren sagten 71 Prozent der Befragten, die gesellschaftlichen Werte seien bedroht. Die Verständigung über gemeinsame Werte ist jedoch in einer Demokratie unabdingbar. Sie dienen den Menschen als Basis und Orientierung für das Zusammenleben in Staat und Gesellschaft. Diese Werte sind zum Beispiel die Grundlagen der Gesetze, die im Bund und in den Kantonen erlassen werden. Wer nicht weiss, woher er kommt, kann nicht wissen, wohin er gehen soll.
«Wegbrechen tragender Grundwerte»
Alt Nationalrat Ruedi Aeschbacher schrieb einmal treffend: «Das eigentliche Grundproblem unseres Landes liegt tief: Im rasanten Wegbrechen tragender gemeinsamer Grundwerte in unserer Gesellschaft, nach welchen sie lebt und wirtschaftet. Das grosse Wertedefizit bildet die Wurzel vieler Probleme, die heute unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft und die polarisierte Politik umtreiben. Denn wie wollen wir beispielsweise Fremdem – etwa dem Islam – begegnen oder wie wollen wir Zugewanderte integrieren, wenn wir selbst kaum mehr wissen, woher wir kommen, wer wir sind, was uns wichtig und wertvoll ist und wohin unsere Reise gehen soll? Oder wie hält eine Gesellschaft noch zusammen und wie löst sie ihre Probleme, wenn nicht mit gemeinsamen Grundwerten ein breiter Konsens über das Funktionieren und Handeln in der Politik, in der Wirtschaft und im zwischenmenschlichen Bereich besteht?»
«Wir wollen alles!»
Unsere Werte verraten, was wir gut oder schlecht finden. Da steht zum Beispiel in der Coopzeitung die Schlagzeile «Was Junge wirklich wollen – Generation ICH». Und weiter heisst es über die 15- bis 30-Jährigen, die sogenannte Generation Y: «Bereits als Kleinkinder durften sie mitbestimmen. Sie wurden von ihren Eltern gefördert, ermutigt und auf eine Welt vorbereitet, die ihnen unendliche Möglichkeiten zur Entfaltung vorgaukelt. Und nun sind sie erwachsen geworden und fordern das versprochene Recht auf Selbstverwirklichung ein.» Sie wollen nur das tun, was für sie persönlich stimmt. Und: «Verzichten möchten die Befragten beim Entwurf ihres Lebensprojekts auf nichts... Sie wollen alles und das, wenn möglich, auf einmal. 'We want it all!'»
Gemeinsame Interessen und soziales Denken kommen bei dieser «Ego-Ethik» zu kurz. Unser aller Sozialverhalten wird seit etlichen Jahren durch einen zunehmenden Individualismus geprägt. Wir leben auf uns selbst bezogen. Alles dreht sich um den Einzelnen – und das hat Konsequenzen für das Zusammenleben in Familie, Gemeinde und Staat. Der Wert dahinter heisst: «Gut ist, was mir nützt. Schlecht ist, was mir Nachteile bringt.»
Die guten Tugenden verschwinden
Wieso sollten Kindergartenkinder ihre Spielsachen mit anderen teilen und auf etwas verzichten, wenn sie doch der Nabel der Welt sind? Warum sollten Jugendliche nicht ihre Bedürfnisse so schnell wie möglich stillen und darauf bedacht sein, ja nichts zu verpassen, wenn sie doch die von der Werbung umjubelten Superstars sind? Warum sollten Erwachsene nicht nach dem Motto leben: «Das Leben muss mir etwas bringen! Man gönnt sich ja sonst nichts», wenn es doch vor allem um mein persönliches Glück geht? Ellenbogenmentalität und Mobbing am Arbeitsplatz, Rücksichtslosigkeit auf der Autobahn und ein unhöflicher und verletzender Gesprächston machen sich immer mehr breit.
Eine realistische Selbsteinschätzung ist das, was heute vielen Menschen fehlt. Eben Demut – den Mut zu dienen – und eine Ethik der Nächstenliebe, die das Wohl des anderen im Blick hat. Die zunehmende Ich-Zentriertheit des Menschen führt dazu, dass die Tugenden, welche die Schweiz zu dem machten, was sie ist, immer mehr aus dem Blickfeld verschwinden. Rücksichtnahme, Respekt, Bescheidenheit, Opferbereitschaft, Treue und Anteilnahme klingen heute so, als stammten sie aus der Mottenkiste. Dabei waren sie jahrhundertelang erprobte Charaktereigenschaften, die das Zusammenleben regelten und ein harmonisches Miteinander ermöglichten.
Kommt ein Umdenken?
Ich zitiere noch einmal Ruedi Aeschbacher: «Ermutigend ist aber: Immer mehr Menschen realisieren, dass Habgier und Materialismus, freizügiger Genuss, billiger Festhüttenzauber und Müssiggang in sozialen Hängematten bewährte und auf unserer christlich-abendländischen Kultur fussende Werte und Grundhaltungen wie beispielsweise Glaubwürdigkeit, Verantwortung, Gerechtigkeit, Solidarität und Wertschätzung nicht ersetzen können.» Ermutigend ist auch, dass Werte wie Freundschaft und Familie unter jungen Menschen weiterhin im Trend sind. Das schenkt Hoffnung. Doch wir benötigen in unserer wachsenden und multikulturellen Gesellschaft wieder eine minimale Übereinstimmung bezüglich unserer Werte. Sonst lebt jeder der acht Millionen Bürgerinnen und Bürger sein eigenes ethisches Wertesystem. Jeder will dann für sich selbst bestimmen, was gut oder was schlecht ist.
Ohne Glauben sterben die Werte
Wenn wir aber nur auf unser Recht auf Freiheit und Toleranz pochen, ermöglichen wir kein gelingendes Miteinander. So zerbricht unsere Gesellschaft. Wie können wir das aufhalten? Wie kommen wir wieder zu einem gemeinsamen und öffentlichen Wertesystem? Ohne Glauben sterben die Werte. Wenn uns klar ist, auf welchen geschichtlichen Grundlagen die Schweiz steht, dann brauchen wir nicht bei null anzufangen. Es gibt eine ethische Richtlinie, die das Zusammenleben im christlichen Abendland jahrhundertelang geprägt hat: Das jüdisch-christliche Ethos, wie wir es in der Bibel finden.
Zum Autor
Jürgen Neidhart ist Pfarrer der ev.-ref. Kirchgemeinde Zihlschlacht-Sitterdorf TG.
Lesen Sie den ausführlichen Artikel im Wochenmagazin ideaSpektrum Nr. 46-15.
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