In
manchen Ländern ertönt heute der Aufruf, sich gegen eine aufkommende Diktatur
zu Wehr zu setzen. Der Thuner Politologe Samuel Kullmann rühmt die Schweizer
Demokratie, mahnt aber auch zur Wachsamkeit.
Samuel Kullmann (34) schloss 2014 sein Studium in
Politikwissenschaft und Sozialwissenschaft ab. Beruflich ist er als politischer
Mitarbeiter der EDU Kanton Bern, Grossrat und Einzelunternehmer engagiert.
Livenet: Herr Kullmann, wie einzigartig ist die Demokratie in der
Schweiz verglichen mit anderen Ländern?
Samuel Kullmann: Jede Demokratie unterscheidet
sich von anderen, doch das politische System der Schweiz ist tatsächlich
einzigartig. Kein anderes Land hat eine Team-Regierung wie der Bundesrat. Auch
sind direktdemokratische Rechte in keinem anderen Land so ausgebaut wie in der
Schweiz. Seit der Gründung des modernen Bundesstaates im Jahre 1848 hat das
Schweizer Stimmvolk über 628 Abstimmungsvorlagen entschieden, mehr als alle
anderen Länder zusammengezählt. Zudem ist der Föderalismus (Autonomie der
Kantone) nach Kanada am zweitstärksten ausgeprägt. Parlamentsmitglieder üben
ihr Mandat Teilzeit aus (Milizsystem) und haben, im Vergleich zum
Durchschnittslohn des Landes, eine der bescheidensten Entlöhnungen.
Ist Demokratie die beste Regierungsform? Sehen Sie auch Schattenseiten?
Eine lebendige Demokratie mit funktionierenden
Gewaltenteilung ist am besten geeignet, die sündige Natur der Machthaber in
Grenzen zu halten. Ein demokratisches System tendiert zu Mittelmässigkeit und
Stabilität. Es ist mehr oder weniger ein Abbild des Volkes. Viele Psychopathen
haben ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Macht und Prestige und dürften deshalb
überdurchschnittlich oft in politischen Ämtern zu finden sein. Es scheint mir
sehr weise, den Einfluss dieser Leute durch die Machtteilungsmechanismen einer
Demokratie zu beschränken. Die Qualität von demokratischen Systemen unterscheidet
sich jedoch erheblich. So scheinen viele afrikanische Länder von ihren früheren
Kolonialmächten eine Demokratie übernommen zu haben, welche bestehende Probleme
wie Stammesdenken verschärft. Ich bin der Überzeugung, dass eine Team-Regierung,
wie sie die Schweiz hat, geeigneter wäre, um in diesen Ländern relevante
Minderheiten an der Macht zu beteiligen und so die Stabilität dieser jungen
Demokratien zu fördern.
Während der Pandemie wurde unser Regierungssystem mit einer Diktatur verglichen.
Wie kommen Leute darauf?
Wenn sich Leute über etwas empören, drücken sie
sich manchmal dramatisch aus, um argumentativ ihren Punkt klar zu machen und
ihrer Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Der Nazi- oder Holocaust-Vergleich
lässt grüssen. 99 Prozent der Leute und Gruppen, die heute als Nazis bezeichnet
werden, haben mit Hitlers Nationalsozialisten wenig gemeinsam. Fast alle Länder
haben im Zuge der Corona-Situation enorm viele Grundrechte eingeschränkt, so
wie wir es eigentlich nur in Diktaturen gewohnt sind. In der Schweiz geschah
dies auf demokratiepolitisch sauberem Weg, doch das Ergebnis bleibt dasselbe. Viele
Kritiker der Massnahmen empfinden diese als unverhältnismässig und/oder
kontraproduktiv.
Weltweit kann beobachtet werden, dass Regierungen
in Krisen ihre Macht missbrauchen. Während dem zweiten Weltkrieg wandte der
Bundesrat Staatsnotrecht an. Nach Ende des Krieges zeichnete sich dann ab, dass
Bundesrat und Parlament von diesem Vollmachtenregime nicht mehr abrücken
wollten. Besorgte Bürger lancierten die Volksinitiative «Rückkehr zur direkten
Demokratie», welche 1949 vom Stimmvolk angenommen wurde. Auch in der heutigen
Zeit ist es wichtig, wachsam zu sein.
Konkret: was kann dem Bundesrat vorgeworfen werden?
Auf rechtlicher Ebene können dem Bundesrat kaum
Vorwürfe gemacht werden.
Der Bundesrat kann hauptsächlich für die
getroffenen Einschränkungen zur Bekämpfung der Corona-Situation kritisiert
werden. Das Parlament stellte in den letzten Wochen die Forderung einer
schnelleren Lockerung, welcher der Bundesrat nur sehr zögerlich nachkam.
Allerdings scheint der Bundesrat für den begangenen Weg bis heute die
Rückendeckung einer Mehrheit der Bevölkerung zu haben.
Aktuell gibt es auch in Deutschland Diktatur-Vorwürfe. Ist die dortige
Lage vergleichbar mit der Schweiz?
Nicht wirklich, es gibt zu viele Unterschiede,
welche die Situation in Deutschland problematischer machen: Die
Corona-Massnahmen der deutschen Regierung waren fast durchwegs weitreichender
als in der Schweiz. Während viele Länder Massnahmen lockern, führt Deutschland
eine Ausgangssperre ein. Massnahmenkritiker scheinen medial und politisch einen
noch schwereren Stand zu haben als in der Schweiz. Etablierte Parteien haben in
Deutschland eine grössere Machtfülle als in der Schweiz und deutsche
Bürgerinnen und Bürger haben keine Möglichkeit, mittels eines Referendums einen
Entscheid des Parlaments zu kippen. In der Schweiz können wir im Juni über das
Covid-19-Gesetz abstimmen.
Deutsche Parteien können ihre Abgeordneten stärker
unter Druck setzen, wenn sie von der Parteilinie abweichen. Die nationale
Fünf-Prozent-Hürde verhindert weitgehend, dass neue Parteien wachsen und sich
etablieren können. Aufgrund dieser Faktoren habe ich den Eindruck, dass sich
Bürger in Deutschland machtloser und ausgelieferter fühlen als in der Schweiz.
Weltweit ist die Zufriedenheit mit der Demokratie in der Schweiz am höchsten,
in Deutschland bedeutend tiefer. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass
Deutschland im letzten Jahrhundert unter zwei schlimmen Diktaturen litt, deren
Macht schleichend zunahm.
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