Die Corona-Krise macht die Schweizer Bevölkerung sozialer: Im Vergleich zum Vorjahr sind laut dem Hoffnungsbarometer 2021 mehr Menschen bereit, anderen zu helfen. Mehr Geld zu verdienen, verliert an Bedeutung. Lebenszufriedenheit und Wohlbefinden blieben trotz Pandemie praktisch unverändert.
Das Hoffnungsbarometer 2021 mit dem Titel «Wie resilient ist die Bevölkerung in Zeiten von Corona?» basiert auf den Ergebnissen einer schweizweiten Online-Befragung. Diese wurde im November 2020 mit rund 7'000 Teilnehmern durchgeführt. Für die Studie arbeitete die Universität St. Gallen mit Swissfuture, der Schweizerischen Vereinigung für Zukunftsforschung, und Swippa, der Schweizerischen Gesellschaft für Positive Psychologie zusammen.
Florian Wüthrich fragte bei Studienautor Andreas Krafft nach, welche Erkenntnisse aus der Befragung resultierten. Krafft ist akademischer Leiter des Hoffnungsbarometers in der Schweiz und Dozent an der Universität St. Gallen.
Andreas Krafft
Livenet: Andreas Krafft, was sind die wichtigsten
Erkenntnisse aus dem Hoffnungsbarometer 2021?
In Krisenzeiten besinnen sich die Menschen noch stärker
darauf, was ihnen besonders wichtig und wertvoll ist. So beziehen sich die wesentlichen
Hoffnungen auch in diesem Jahr vor allem auf eine gute Gesundheit, auf eine
glückliche Ehe, Familie oder Partnerschaft, auf ein harmonisches Leben, auf
gute und vertrauensvolle Beziehungen, auf mehr Autonomie und Selbstbestimmung
sowie auf eine sinnerfüllende Aufgabe. Im Vergleich zum vorherigen Jahr haben
diese Lebensbereiche sogar an Bedeutung gewonnen, während Dinge wie Geld, Sex
und romantische Beziehungen oder sogar Erfolg an Wichtigkeit verloren haben.
Lediglich zwei Bereiche haben im Laufe von 2020 an Stellung gewonnen: In
wirtschaftlich unsicheren Zeiten hoffen viele Menschen auf den Fortbestand und
die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes. Zudem rückt der Wunsch auf
Hilfsbereitschaft anderen Menschen gegenüber vermehrt ins Bewusstsein.
Am Forum Christlicher Führungskräfte Mitte September in
Winterthur sagten Sie, dass Sie keine starke Veränderung des
Hoffnungsbarometers aufgrund der Corona-Pandemie erwarten. Lagen Sie mit dieser
Einschätzung richtig?
Ja, es mag erstaunlich klingen, aber sowohl die
Lebenszufriedenheit als auch das persönliche Wohlbefinden sind Ende 2020 auf
ähnlichem Niveau wie in 2019. Und die Hoffnung hat von einem Jahr zum anderen sogar
signifikant zugenommen. Lediglich das soziale Wohlbefinden hat unter den
Geschehnissen in 2020 gelitten. So unglaublich diese Ergebnisse klingen mögen,
sie sind in der Natur des Menschen begründet. Die Zufriedenheit mit dem eigenen
Leben ist eben nicht nur ein Ausdruck dafür, dass wir ein besonders leichtes
oder angenehmes Leben haben. Mit unserem Leben sind wir auch dann zufrieden,
wenn wir zurückschauend erkennen, dass wir die Aufgaben und Herausforderungen
im Alltag gut gemeistert haben. In solchen Fällen sind wir gerade in widrigen
Umständen besonders zufrieden, weil wir etwas Beachtliches geschafft haben.
Mit der Hoffnung verhält es sich ähnlich. Hoffnung ist eine
Haltung und ein Gefühl, welche besonders in der Not oder in schwierigen
Situationen von Bedeutung sind. Während einer Rezession hofft man auf
wirtschaftliches Wachstum und während eines Krieges hofft man auf Frieden. So
wurde vielen Menschen gerade in der aktuellen Lage der Wert der Hoffnung
bewusst. In Krisenzeiten bewährt sich die Hoffnung gegen Ängste,
Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit.
Sie schreiben in der Studie, dass die Nächstenhilfe an
Bedeutung gewonnen hat. Kann man daraus auch schliessen, dass das Bewusstsein
für die Mitmenschen oder sogar die Nächstenliebe gewachsen ist?
Die Studie bestätigt nur das, was wir während der letzten
Monate sehr häufig im Alltag erlebt haben. Viele Familien und Freunde sind in
der Not noch enger zusammengerückt. Aber auch mit Nachbarn oder im Quartier
sind Menschen untereinander fürsorglicher geworden. Wir konnten auch eine
starke Solidarität beobachten, mit älteren Menschen, mit dem Pflegepersonal
aber auch mit Personen, die von der Krise besonders hart getroffen wurden.
Viele Hilfswerke sind aktiv geworden und haben Spenden für Notleidende
gesammelt.
«Dort wo Hoffnung herrscht,
öffnen sich die Menschen,
schauen
aufeinander und
helfen sich gegenseitig.»
In einer Krise werden die wahren Werte einer Gesellschaft sichtbar. Die
grundsätzliche Frage ist, ob in solchen Situationen die Angst oder die Hoffnung
die Oberhand gewinnt. Wenn die Angst stärker ist als die Zuversicht, dann
schliessen sich die Menschen und schauen nur für sich. Die Folgen davon sind
Egoismus und Rücksichtslosigkeit. Die Hoffnung dagegen ist in ihren Grundzügen
von sozialer Natur. Nicht umsonst sagt der Apostel Paulus, dass Hoffnung und
Liebe zusammengehören. Dort wo Hoffnung herrscht, öffnen sich die Menschen, schauen
aufeinander und helfen sich gegenseitig. In der aktuellen Krise haben wir
wieder zu spüren bekommen, wie verletzlich wir als Einzelne sind und wie
wichtig es ist, Teil einer Gemeinschaft zu sein.
Überraschend ist vielleicht, dass die Hoffnung auf
Geld im Vergleich zum letztjährigen Barometer gesunken ist. Wie lässt sich das
gerade in so unsicheren Zeiten erklären?
Wir leben in einer wohlhabenden Gesellschaft und die
aktuelle Krise hat bisher nicht viel daran geändert. Die meisten Menschen
wurden finanziell nicht oder nicht allzu stark von den Massnahmen wie dem Lockdown
getroffen. Dies ist selbstverständlich auch den Zuwendungen des Bundes in Form
von Kurzarbeit und anderen Ausgleichszahlungen zu verdanken. Natürlich gibt es
Personen, die grosse Einbussen in ihren Einnahmen hatten oder sogar ihr
Geschäft oder ihre Stelle verloren haben. Diese benötigen die Zuwendung des
Staates, um wieder auf die Beine zu kommen. Aber die grosse Mehrheit konnte
ihren Job behalten. Dies zeigt, wie resilient unsere Gesellschaft ist. Zudem
wurde uns durch die Pandemie eindrücklich vor Augen geführt, wie wichtig die
Gesundheit und gute sozialen Beziehungen sind, die man eben nicht einfach mit
Geld kaufen kann.
Was die gesamtgesellschaftliche Entwicklung betrifft,
sind die Menschen eher pessimistisch. Sie erklären dies in der Studie mit den
vielen schlechten Nachrichten und Verschwörungstheorien, welche kursierten.
Haben Sie Hoffnung, dass diese Dynamik, die ja oft auch mit einem «Klima der
Angst» einhergeht, im 2021 gebrochen werden könnte?
Die Geschehnisse im Jahr 2020 haben die Empfindung der
Menschen noch weiter zugespitzt, die Welt würde langsam aber sicher aus den
Fugen geraten. Die aktuelle Pandemie hat die ganze Welt und nahezu alle
Menschen getroffen und gezeigt, wie verletzlich und teilweise auch wie rat- und
machtlos wir sind. Auch wenn die Pandemie hoffentlich bald eingedämmt werden
kann und sich damit ein Gefühl der Erleichterung breit macht, wird dies nicht
viel an der allgemeinen Weltlage verändern. Vielleicht sogar im Gegenteil.
«Es
wird in Zukunft viele
neue Möglichkeiten, aber
auch neue Krisenquellen geben.»
Die
armen Länder werden die Folgen der Krise noch viel stärker und länger spüren
als die reichen Gesellschaften, was das Ungleichgewicht verschärfen wird. Es
wird in Zukunft viele neue Möglichkeiten, aber auch neue Krisenquellen geben. Wir
müssen lernen, wie wir in Zukunft mit potenziellen neuen Krisen umgehen und als
Gesellschaft nachhaltiger, robuster und damit krisenresistenter werden. Eine wichtige
Erkenntnis aus der jetzigen Krise müsste sein, dass die Welt ökologischer und sozialer
werden muss, wenn sie weitere Krisen in Zukunft vermeiden möchte.
Laut einer deutschen Studie denken auch deutlich mehr
Menschen über den Sinn des Lebens nach (wir berichteten).Stützen die Ergebnisse des
Hoffnungsbarometers diese Aussage?
Eine sinnerfüllende Aufgabe im
Leben gehört nach wie vor zu den prominentesten Hoffnungen der Menschen. Einige
Personen haben sich im Laufe des vergangenen Jahres sicherlich vermehrt darüber
Gedanken gemacht. Kürzlich wurde ich mit der Erfahrung konfrontiert, dass
gerade in 2020 mehrere Menschen etwas ganz neues im Leben gewagt, sich
beispielsweise selbständig gemacht oder den Job gewechselt haben. Das Wort «Krise»
kommt vom Griechischen und bedeutet so viel wie Zuspitzung oder entscheidende
Wende. Krisen sind von Natur aus mit einer fundamentalen Unsicherheit und einem
Vertrauensverlust in die bisherigen Annahmen, Selbstverständlichkeiten,
Praktiken sowie gängigen Konventionen verbunden. Jede persönliche Krise ist mit
einer gewissen Orientierungslosigkeit verbunden und löst im Menschen das
Bedürfnis nach einer festen Grundlage aus. In einer existenziell schwierigen
Situation gibt der Lebenssinn ein solches Fundament.
Andreas Krafft, Sie waren ja im letzten Jahr auch ab und
zu in den Livenet-Talks dabei und versprühten dort auch immer eine Zuversicht,
dass gerade auch der Glaube an Wichtigkeit gewinnen könnte. Steigt das
Interesse an Spiritualität tatsächlich?
Aufgrund unserer Forschungsergebnisse muss ich sagen, dass ein
solcher Trend nicht festgestellt werden kann. Eher findet eine noch stärkere
Polarisierung statt. Menschen, die bereits offen für spirituelle oder religiöse
Themen sind, haben sich in 2020 noch stärker damit befasst.
«Was eindeutig festgestellt werden kann
ist der positive
Zusammenhang
zwischen Religiosität und Hoffnung.
Etwa 15 Prozent unserer
Befragten haben in 2020 Halt im Glauben gefunden, d.h. haben gebetet oder auf
Gott vertraut. Auf die Frage hin, ob es in Folge der Pandemie-Krise zu einer
Zunahme oder Abnahme im Glauben gekommen ist, sagten knapp 70 Prozent, dass ihr Glaube
an und ihr Vertrauen in Gott weder gestiegen noch zurückgegangen sind. Für ca.
15% haben Glaube und Vertrauen zugenommen und für weitere 15% haben diese
abgenommen. Was eindeutig festgestellt werden kann ist der positive
Zusammenhang zwischen Religiosität und Hoffnung. Menschen, die regelmässig
beten, sich aktiv in der Kirche engagieren und im Glauben einen Lebenssinn
erkennen und ihr Leben danach ausrichten, sind (unabhängig vom Alter)
hoffnungsvoller als Menschen, die das alles nicht tun.
Zum Schluss noch diese Frage: Warum macht es für Sie
Sinn, die Hoffnungen der Menschen zu erforschen? Was ist Ihr Antrieb bei dieser
Arbeit?
Hoffnung ist ein zentrales menschliches Phänomen, das in
unserer Gesellschaft noch nicht ausreichend verstanden wird. Erst in der Krise
wurden die Bedeutung und der Wert der Hoffnung so richtig bewusst. Wenn wir
unsere ganz persönliche sowie unsere gemeinsame Zukunft proaktiv und positiv
gestalten möchten, dann ist Hoffnung eine wesentliche Voraussetzung dafür. Ein
gutes und erfülltes Leben ist ohne Hoffnung überhaupt nicht denkbar. Ich möchte
die wissenschaftlichen Grundlagen für ein besseres Verständnis von Hoffnung
bereitstellen und darüber hinaus konkrete Initiativen wie beispielsweise die
Hoffnungswerkstatt in Schulen und Unternehmen durchführen. Einige Projekte sind
diesbezüglich bereits in der Umsetzung. So möchte ich einen Beitrag leisten,
damit Menschen und vor allem Jugendliche
für sich selbst und für die Gesellschaft als Ganzes hoffnungsvoll in die
Zukunft schauen und eine Gemeinschaft der Hoffnung bilden können.
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