Kurzzeiteinsätze

Wenn Gutes tun nicht so gut ist

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Abschied von einem Sommerlager für Kinder aus ukrainischen Waisenhäusern (Bild: zVg)
Man darf wieder etwas reisen, die Sommerferien stehen bevor, und da kommt beim einen oder anderen die Idee auf, die Ferien nicht einfach für sich zu brauchen, sondern gleichzeitig noch etwas zu tun, dass anderen Menschen helfen kann. Aber ist das immer und in jedem Fall eine gute Idee? Barbara Rüegger arbeitet seit Jahren mit «World without Orphans» und weiss auch über die Schattenseiten von Kurzeinsätzen.

Oft beinhaltet so ein Sommer-Missionseinsatz auch einen Einsatz unter Kindern. Manchmal geht es darum, in einem Kinderlager mitzuhelfen oder ein Programm für Kinder auf der Strasse oder im Park zu organisieren. Alles schön und gut. Aber wenn so ein Einsatz nach Asien, Afrika oder Osteuropa geht, ist das oft mit einem Besuch in einem Waisenhaus, einer Institution für Kinder verbunden. Eine Umfrage in den USA unter Personen, die einen Einsatz gemacht haben, ergab, dass fast alle (95 Prozent) mit vulnerablen Kindern in Kontakt waren und dass zwei Drittel von ihnen in der Zeit, wo sie mit den Kindern zusammen waren, nicht von lokalen Mitarbeitern beaufsichtigt wurden.

Eine junge Frau, welche im Waisenhaus aufgewachsen ist, erzählte, dass in der Zeit, in der die Volontäre da waren, die Mitarbeiter frei gemacht haben und die Lehrer die Zeit brauchten, um zu korrigieren und vorzubereiten, da wegen des Besuchs der Volontäre auch die Schule ausfiel. Ich habe auch schon öfter Berichte von Teams gelesen, welche ein Waisenhaus besuchten und ganz begeistert davon waren, wie offen und liebevoll die Kinder waren, die ihnen schon beim ersten Besuch entgegen stürmten und sie umarmten. Diese Volontäre waren sich nicht bewusst, dass dies kein normales Verhalten von gesunden Kindern ist.

Wer sind die Kinder in den Waisenhäusern?

Weltweit sind etwa 80 Prozent aller Kinder, die in einem Waisenhaus leben, keine Waisen, daher ist der Begriff «Waisenhaus» auch irreführend. Die meisten sogenannten Waisen haben mindestens einen Elternteil oder sogar noch beide Eltern, mindestens aber Grosseltern oder andere Verwandte. Sie sind im Waisenhaus gelandet, weil ihre Eltern arm sind, ihnen keine Schulbildung ermöglichen können oder weil es in der Familie Gewalt gibt.

Viele Kinder in Waisenhäuser auf der ganzen Welt sind auch dort, um Touristen, Spendern und Freiwilligen Geld zu entlocken. Einige der Kinder wurden sogar verkauft oder an Waisenhäuser vermietet.

Verletzte Kinder

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Barbara Rüegger mit zwei ihrer ehemaligen «Strassensöhne»
Wenn Kinder in einem Waisenhaus aufwachsen, fehlt ihnen meistens die Bezugsperson, die wirklich da ist für sie, so wie es Kinder in einer intakten Familie erleben können. Kinder binden sich schon als Baby an ihre Eltern und lernen so, diesen und danach auch anderen Menschen in ihrem Leben zu vertrauen. Dieses Vertrauen ist wichtig für jedes Kind, damit es sich gesund entwickeln kann.

Kinder, die in einem Heim aufwachsen, haben erlebt, wie die Bindung zu ihren Eltern zerbrochen ist und haben nun niemand, an den sie sich wieder binden könnten. Sehr oft übernehmen Volontäre dann diesen Platz, sagen ihnen, wie wunderbar sie sind und wie sehr sie sie lieb haben. Nach ein paar Tagen, Wochen oder Monaten gehen die Volontäre aber wieder und die Kinder erleben einmal mehr, dass sie verlassen werden von der Person, von der sie sich geliebt wussten. Alle Hoffnungen, dass der oder die Freiwillige sie mitnimmt und ihnen ein neues Zuhause gibt, wurden zerschlagen.

Eine junge Frau, die viele Jahre in einem Waisenhaus lebte, sagte: «Jedes Mal, wenn die Volontäre gingen, war unser Herz gebrochen.» Ein Junge aus Indien meinte: «Wir hörten immer wieder, wie wunderbar wir sind, aber keiner der Volontäre kam jemals zurück, um uns wenigstens noch ein zweites Mal zu besuchen. Wie wunderbar sind wir wirklich? Wurden wir angelogen?»

Nach dem ersten, zweiten, dritten Volontär geben die Kinder ihre Hoffnungen auf. Sie hören auf zu vertrauen und binden sich an niemanden mehr, aber ohne Bindungen können wir nicht leben. Aus dieser fehlenden, zerbrochenen Bindung heraus kann es dann sein, dass sich die Kinder einfach an jede Person hängen, die vorbei kommt und von der man vielleicht auch noch etwas bekommen kann. Viele dieser Kinder werden nie wirklich fähig sein, nach ihrem Austritt aus dem Waisenhaus ein gutes, produktives Leben zu haben und viele enden im Gefängnis, in der Prostitution oder bekommen als Teenager Kinder, welche dann wieder im Waisenhaus landen. Ein etwa 35-jähriger russischer Mann, der im Waisenhaus aufgewachsen ist, aber das Glück hatte, dass immer jemand da war, der sich um ihn kümmerte, erzählt, dass alle seine Freunde aus dem Waisenhaus bereits gestorben sind. Waisenhäuser sind offensichtlich kein guter Ort für Kinder.

Verbot von Einsätzen in Waisenhäusern

Verschiedene Länder, darunter Australien, Grossbritannien und die Niederlande, warnen heute ihre Bürger davor, als Volontäre in Waisenhäuser zu gehen, da sie damit helfen, diese «Industrie» anzukurbeln. Für Australien ist dieser Waisenhaus-Voluntourimus Menschenhandel.

Es mag seltsam klingen, dass in gewissen Ländern sogenannte Waisenhäuser als Touristenattraktionen gestartet wurden und Touristen eingeladen werden, am Abend vorbei zu kommen, um die Kinder tanzen zu sehen. Auf Tripadvisor findet man diese Werbung für einen Ausflug: «Danach besuchen Sie Little Angel City, ein Waisenhaus, das sich am Stadtrand von Siem Reap befindet.» Wäre so etwas bei uns in der Schweiz auch möglich?

Viele Kinderheime, auch wenn sie nicht offensichtlich Touristenattraktionen sind, verlassen sich auf das Geld und die Mitbringsel, oft in Form von Kleidern oder Spielzeug, von Volontären und Besuchern. Als die Besucher wegen Covid-19 und den Reiseeinschränkungen wegblieben, konnten viele  Waisenhäuser die Kinder nicht mehr versorgen. In der Ukraine wurden Kinder zurück in ihre Familien geschickt, welche auch sonst nicht genug zum Leben hatten und nun noch für die Kinder sorgen mussten.

Was in der Schweiz nicht geht, geht auch im Ausland nicht

Nicht nur könnte man in der Schweiz niemals mit einer Touristengruppe in ein Heim spazieren, auch sonst muss sich jemand, der in einem Heim arbeiten will, schriftlich bewerben und sollte wo möglich qualifiziert sein oder bereit sein, es zu werden. Volontäre würden nicht als Lehrer angestellt und man würde ihnen keine Gruppe Kinder ohne Aufsicht überlassen.

Eigentlich ist jedem klar, dass Kinder mehr brauchen als ein Dach über dem Kopf und genug zu essen, dass Kinder Liebe und Zuwendung brauchen, um sich gut zu entwickeln, aber wenn es um Kinder in Waisenhäusern geht, wird das schnell vergessen. Darum sollte man sich vor einem Einsatz in einem Waisenhaus immer fragen, ob dies auch in der Schweiz möglich wäre.

Hilfreiche Einsätze

In vielen Waisenhäusern sind auch die regulären Mitarbeiter nicht wirklich ausgebildet. Was ihnen und den Kindern wirklich eine Hilfe wäre, sind Menschen, die selber eine entsprechende Ausbildung haben und sich Zeit nehmen, die Mitarbeiter auszubilden oder einfach den Mitarbeitern etwas Gutes tun. Statt ein Waisenhaus zu besuchen, wäre es besser, Kindern, die bei ihren Eltern leben, Programme anzubieten, etwa ein Sommerlager in einem Dorf und Elternkurse am Abend.

Zum Thema:
Eine Familie für jedes Kind: Tatkräftiger Einsatz für eine Welt ohne Waisen
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Datum: 29.06.2021
Autor: Barbara Rüegger
Quelle: Livenet

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