Im
Rotlichtmilieu herrschte bereits vor Corona Maskenpflicht. Masken, die von
jungen Frauen und Männern getragen werden müssen, um die Illusion käuflicher
Liebe aufrechtzuerhalten. Für den Menschen hinter der Maske interessiert sich
kaum jemand.
Vor
einigen Wochen war es soweit: Ich durfte mich einem Team von Parparim
anschliessen, welches Frauen in Bordellen und Kontaktbars besucht. Parparim ist
eine unabhängige Hilfsorganisation, die sich für Menschen im Rotlichtmilieu
einsetzt. Seit über einem Jahr beschäftige ich mich intensiver mit dem Thema
Menschenhandel. In dieser Zeit habe ich erschütternde Erfahrungsberichte von
Peter und Dorothée Widmer vom Verein Heartwings gelesen. Und Bücher, wie etwa «Piff, Paff, Puff» von Aline Wüst, einer
Journalistin, die zwei Jahre im Schweizer Rotlichtmilieu recherchierte und mit
diesem Hintergrundwissen ihren Lesern aufzeigt, welches menschenverachtende Elend
sich hinter der Fassade der legalen Prostitution verbirgt.
Ich
wurde mit Geschichten konfrontiert, die mir nicht mehr aus dem Kopf gingen. Verzweifelte
Menschen, die der bitteren Armut und Perspektivlosigkeit ihrer Heimatländer zu entkommen
versuchten, falschen Versprechungen Glauben schenkten und sich schliesslich – bei
uns im Westen – in ihren schlimmsten Albträumen wiederfanden. Von der traumhaften
Bilderbuchschweiz bekamen diese jungen Menschen, manche minderjährig, wenig bis
nichts zu sehen. Gefragt waren einzig ihre Körper. Schicksale, die mich
aufwühlten.
Masken
Ruedi Graf
Kurz danach
entstand der Kontakt zu einer Mitarbeiterin von Parparim. Ich wurde Mitglied der
Organisation und hatte dann, vor einigen Wochen, das erste Mal die Gelegenheit,
diesen Frauen und Männern persönlich zu begegnen. Vor den Wohnungstüren waren bis
zu fünf Namensschilder mit Klingeln montiert. Zahlreiche Überwachungskameras,
kitschige rote Lämpchen und Fotos der Frauen, damit sich der Kunde seine Ware bereits
im Voraus aussuchen kann. Klingelt man, erscheint nach einiger Zeit eine junge
Frau. Leicht bekleidet, mit Maske. Nicht mit der Maske, wie wir sie seit 2020 kennen,
sondern in ihrer Rolle als Objekt. Die Emotionen hinter der Maske sind dem
Kunden egal. Er verlangt für sein Geld eine einwandfreie Dienstleistung.
Wir von
Parparim interessieren uns für die Menschen hinter den Masken und wollen der
Not von Frauen und Männern in der Prostitution begegnen, indem wir ihnen
Möglichkeiten anbieten, Glaube, Hoffnung und Liebe zu erleben und Schritte in
ein neues Leben zu wagen. Um ihnen unsere Wertschätzung zum Ausdruck zu
bringen, haben wir bei jedem Einsatz Geschenke in Form von süssen oder salzigen
Leckereien, Beautyprodukten und Blumen dabei.
(Un)freiwillig
Dass Zwangsprostitution
verboten werden muss, da sind sich Politiker von links bis rechts einig. Doch
wie sieht es mit den Frauen und Männern aus, die freiwillig der Prostitution
nachgehen? Haben sie nicht das Recht, selbst zu entscheiden? Bei dieser Frage
vergisst oder ignoriert man die Tatsache, dass über 90 Prozent dieser jungen
Menschen aus armen osteuropäischen oder afrikanischen Ländern stammen. Manche
sehen keine Alternative und haben schlichtweg keine Ahnung, was ein Leben in
der Prostitution tatsächlich bedeutet. Woher sollten sie auch? Viele andere
werden unter falschen Versprechungen hierhergelockt. Wer sich weigert, riskiert
sein Leben.
So erging es Ioana
Condea, einer jungen Mutter aus Rumänien. Sie wurde von einem Zuhälter ins Koma
geprügelt und erlag fünf Jahre später ihren Verletzungen. Die Frage nach der
Freiwilligkeit ist absurd. Welche junge Frau entscheidet sich schon freiwillig
dafür, täglich mit 20 bis 30 Männern zu schlafen und sich dabei noch so zu verhalten,
als würden ihr diese Übergriffe Spass machen? Ich hoffe und bete, dass diese moderne
Sklaverei schon sehr bald der Vergangenheit angehört.
Meghan und Harry sorgten mit einer «Netflix»-Doku für mächtig Wirbel. Die Autorin und «Woman Alive»-Chefredaktorin Tola Doll Fisher machte sich dazu...