Psychiater Daniel Hell (Bild: Mirjam Fisch-Köhler)
90 Personen nahmen an der ökumenischen
Weiterbildung der reformierten und katholischen Kirche Männedorf teil. Der
Psychiater und ehemalige Leiter der Psychiatrischen Universitätsklink Zürich,
Daniel Hell, sprach über den Umgang mit Angst.
«Gefühle sind wichtig, jedes davon hat seine
Berechtigung», hält Daniel Hell fest. «Sie weisen auf Wichtiges hin und lassen
uns selbst spüren.» Schwer depressive Menschen fühlen gar nichts, keine Trauer,
keinen Verlust, keine Wut. Daher sind Gefühle ein Zeichen für Leben, auch wenn
nicht alle gleich willkommen sind. «Gefühle sind der Kitt des Lebens, ohne sie
depersonalisiert man sich», erläutert der emeritierte Professor für Psychiatrie
und ehemalige Leiter der Klinik Burghölzli in Zürich.
Angst ist erlernt
Angst hat eine Schutzfunktion. Sie warnt vor
Gefahren, zum Beispiel am Strassenrand, wenn Autos die Überquerung kaum
zulassen. Allerdings kann sie auch ein Motor von Störungen sein, bis zum
Angelpunkt für psychische Störungen. «Angst ist nicht angeboren, sondern
angelernt», so Hell. Gesunde Angst sei begründet, pathologische nicht. Natürlich
kann man angefahren werden, wenn man aus dem Haus geht. Aber sehr
wahrscheinlich ist es nicht, wenn man sich vorsieht.
Doch die körperlichen
Reaktionen sind die gleichen, ob jemand an begründeter oder diffuser Angst
leidet. Der Puls fährt hoch, das Herz klopft heftig, es können sich Schmerzen
einstellen – das kann Angst auslösen und der Kreislauf geht weiter. «Das
wichtigste an der Behandlung von Angst ist, dass man sie versteht.» Daher hilft
es, sich darüber auszusprechen. Gerade bei Phobien gehe es darum, deren Ursache
nicht zu vermeiden, sondern sich damit zu konfrontieren. So kann sie
schrittweise überwunden werden.
Gefühle sind wichtig
Wie leben in einer rationalen und
sachorientierten Welt. Gefühlen wird nicht der Wert zugestanden, den sie haben. «Das führt zu Schwierigkeiten und Seelenblindheit», warnt der Fachmann. «Zwölf
Prozent der Bevölkerung sind davon betroffen.» Man muss Gefühle ernst nehmen,
damit sich etwas verändert, betont Hell.
Seelsorgerinnen oder Psychotherapeuten
könnten dazu beitragen, dass die eigene Angst verstanden wird. Und dass es
möglich wird, die ihr zugrunde liegenden Denk- und Verhaltensmuster zu ändern. Voraussetzung
sei allerdings, dass sich der Ratsuchende verstanden und wohl fühlt bei seinem
Gegenüber. «Es braucht ein Vertrauensverhältnis», stellt der Fachmann klar.
Druck nimmt zu
Unsere Leistungsgesellschaft trägt dazu bei,
dass die Ansprüche an sich selbst steigen. Und damit nimmt der Druck zu, was
auch Angst auslösen kann. «Gefühle sind Sensoren, sie sollen beachtet, nicht
demontiert werden», betont Daniel Hell. Er nennt einige Massnahmen, mit denen
der Angst Paroli geboten werden kann.
Bewusste
Bauchatmung ist eine gute Methode, aufsteigende Ängste in Schach zu halten. «Wer aus dem Bauch atmet, kann nicht hyperventilieren», erklärt er. «Die Person
wird ruhig und kann sich auf ihre Mitte konzentrieren.»
Angst
soll nicht abgewehrt, sondern bewusst angegangen werden.
Meditation
oder Gebet verhelfen zur Ruhe.
Der
Verzicht oder die Reduktion von Aufputschmitteln wie zum Beispiel Kaffee oder
Energy-Drinks senken den Stresspegel.
Das
Aufarbeiten und Bearbeiten kritischer Lebensereignisse hilft, Stressoren zu
beseitigen. Dabei kann der Glaube nachweislich als Ressource dienen.
Auch
die Zugehörigkeit zu einer Kirche als Glaubensgemeinschaft kann eine Stütze
sein. «Seelsorge spielt sich in Gemeinschaften ab, Psychotherapie meist im
Einzelgespräch.» Beide können einander ergänzen.
Bewegung
in der Natur, Sport treiben, ein Hobby ausüben helfen beim Umgang mit Angst.
Medikamente
können eine Hilfe sein, wenn zum Beispiel Schlafstörungen auftreten. «Wichtig
ist, dass man sie gezielt einsetzt und die Dosis nicht immer mehr erhöht.»
Gefühle sind es wert, beachtet zu werden
Eine Teilnehmerin wollte während der Fragerunde
wissen, ob Ängste zugenommen haben. Daniel Hell meint, sie hätten sich eher
verändert, und heute reagiere man auf Hinweise darauf. So wird schon für Kinder
und Jugendliche eine Therapie verordnet und deren Not nicht schamvoll verschwiegen.
Gerade diesem Gefühl müsse auch mehr Beachtung
geschenkt werden als dies bisher der Fall war. «Scham wird oft durch Wut
überspielt», erläutert der Autor vieler Bücher. Sowohl Scham wie Angst sind
keine negativen Emotionen, die vermieden werden müssen. Sie gehören zu den
Basisgefühlen wie Freude, Wut, Ekel und Traurigkeit. Es sind Symptome für
etwas, das die Seele aufwühlt. Sie sind es wert, beachtet zu werden.
Eine andere Frau fragte, ob Eltern ihre Kinder
auf die Kraft des christlichen Glaubens und seine lebendige Hoffnung hinweisen
können. Für sie ist die Beziehung zu Jesus ein tragendes Fundament. «Wovon man
überzeugt ist, das kann man weitergeben», erklärt der Fachmann. Für ihn gehört
gelebte Spiritualität klar zu den Quellen, die zur Linderung von Leiden und
Überwindung von Angst beitragen.
Zur Person
Daniel Hell hat sein neuestes Buch dem Thema
Scham gewidmet «Lob der Scham. Nur wer sich achtet, kann sich schämen». Weitere
seiner Bücher befassen sich mit Depression, Schizophrenie oder dem Leben als Geschenk
(«Weisheiten der Wüstenväter»).
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