«Wall Street»-Proteste in den USA

Linke Evangelikale auf dem Vormarsch

Die USA sind längst nicht mehr das Land, wo rechtskonservative Evangelikale die Politik alleine prägen. Beim Protest gegen soziale Ungerechtigkeit und die Macht der Banken kämpfen Linksevangelikale und progressive Katholiken heute an vorderster Front. Der Kinofilm «Kapitalismus: Eine Liebesgeschichte» (2009) des umstrittenen amerikanischen Filmemachers Michael Moore sorgte auch in der Schweiz für Schlagzeilen. Sehr provokativ lässt Moore im Film Jesus auftreten, der zu einem Kranken sagt: «Ich kann dich nicht heilen, denn du hast keine Krankenversicherung.» Der katholische Michael Moore, der als Filmemacher mit bissigem Humor und Sozialkritik immer wieder provoziert, engagiert sich aus einer christlichen Motivation für soziale Gerechtigkeit. Auf seiner Webseite wirbt Moore denn auch dafür, sich am Protest vom 15. Oktober 2011 zu beteiligen.

Linke Evangelikale im Aufwind

Moore ist nicht der erste Christ, der sich im konservativen Amerika für soziale Gerechtigkeit engagiert. Schon in den 1970er-Jahren sorgten linksevangelikale Christen wie Jim Wallis mit zum Teil spektakulären Aktionen für Schlagzeilen. Erst in den letzten Jahren gewann die so genannte evangelikale Linke in den USA immer mehr an Einfluss.

Die alte Garde der bekannten rechtskonservativen Prediger wird immer mehr durch eine jüngere Generation abgelöst, die gesellschaftlich offener und eher links orientiert ist. Dazu kommt, dass die amerikanische Gesellschaft den rechtskonservativen Evangelikalen immer kritischer gegenübersteht. Laut einer repräsentativen Gallup-Umfrage aus dem Jahre 2008 erachten nur noch 13 Prozent der amerikanischen Nichtchristen die Evangelikalen als positiv.

Diese gesellschaftlichen Trends machen die linken Evangelikalen in Amerika salonfähig. Sie haben von den Konservativen gelernt und nehmen aktiv auf die amerikanische Politik Einfluss. So zum Beispiel der linke Evangelikale Jim Wallis, der zum Beraterkreis des US-Präsidenten Barack Obama und der US-Aussenministerin Hillary Clinton gehört.

So erstaunt es nicht, dass sich gegen soziale Ungerechtigkeit und die Macht der Banken in den USA auch immer mehr Christen engagieren – darunter auch die wachsende linksevangelikale Bewegung in den USA. Unter dem Motto «Occupy Wall Street» (Besetzt die Wall Street) gehen in New York und anderen US-Städten seit dem 17. September 2011 in zunehmenden Masse Menschen auf die Strasse. Über soziale Netzwerke im Internet breitet sich die Bewegung gegen die Habgier der Finanzmärkte über die Vereinigten Staaten hinaus weltweit aus.

Für den 15. Oktober 2011 sind Demonstrationen in Afrika, Asien und Europa geplant – auch auf Zürcher Paradeplatz. Im Gegensatz zu den USA engagieren sich Christen in der Schweiz bisher kaum bei «Besetzt die Wall Street». In den USA formiert sich die Bewegung auch unter dem Motto «Wir sind die 99 Prozent», nämlich die Mittelschicht und die Armen.

Bei den New Yorker Demonstrationen betonte der evangelische Theologiestudent Rix Thorsell, Jesus habe sich an die Seite der «99 Prozent» gestellt: «Er hat nicht das Establishment unterstützt, sondern sich zu den Armen gesellt und mit ihnen gegessen.» Pastor Tom Martinez von der Vereinigten Kirche Christi sagte der ökumenischen Nachrichtenagentur ENInews (Genf), Christen und Anhänger anderer Religionen protestierten gegen «die wachsende und unkontrollierte Macht der Unternehmen». Martinez gehört der interreligiösen Organisation Brooklyn Congregations United (Vereinigte Gemeinden in Brooklyn) an. Er verglich die heutigen Proteste mit der Bürgerrechtsbewegung des 20. Jahrhunderts und dem Baptistenpastor Martin Luther King (1929-1968) als einem ihrer Anführer.

Zuerst Christen, nicht Amerikaner

Bei einer Podiumsdiskussion am 6. Oktober 2011 in New York waren sich führende Evangelikale aus politisch unterschiedlichen Richtungen einig, dass Armut ein Schlüsselproblem sei, das Christen nicht übergehen dürften. Als Repräsentant der linksevangelikalen Strömung warnte beispielsweise Jim Wallis (Washington), Leiter der Kommunität «Sojourners» (Gäste), davor, Amerika mit dem Kapitalismus gleichzusetzen: «Wir sollten zuerst Christen sein und erst danach Amerikaner.»

Zum Thema:
Webseite Michael Moore
Filmausschnitt aus «Capitalism: A Love Story»  (Englisch)
Sojourners – Faith, Politics, Culture (Englisch)

Buch von Jim Wallis:
Wer wenn nicht wir. Streitbare Visionen für eine gerechte Politik

Datum: 12.10.2011

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