Malatya-Morde

Auf der Suche nach Hintermännern

Der türkische Staat ist in die Morde der drei Gemeindeleiter in Malatya verwickelt gewesen. Diesen Verdacht äussern türkische Anwälte und sprechen von Hintermännern und staatlichen Querverbindungen. Der Prozess, der zur Zeit in der anatolischen Stadt läuft, wirft zusehends Wellen. Darunter auch unerwartete: So spricht die achtjährige Tochter Miriam des ermordeten Tilmann Geseke davon, die Täter im Gefängnis zu besuchen.

Das Verfahren ist in der Türkei prominent geworden und breit in den Medien vertreten. «Der Gerichtssaal war viel zu klein für den Grossandrang, darunter auch Konsulatsbeamte aus Deutschland», berichtet der Menschenrechtler Gunnar Wiebalck, der für die «Christian Solidarity International» (CSI) den Mordprozess in der anatolischen Stadt Malatya beobachtete, die etwa 800 Kilometer südöstlich von Istanbul liegt.

Vor drei Jahren wurden dort drei Pfarrer ermordet, der Deutsche Tilmann Geske sowie die Einheimischen Necati Aydin und Ugur Yüksel. Gunnar Wiebalck: «Sie wurden brutal ermordet, sie wurden an Stühle gebunden, stundenlang gefoltert und dann wurde ihnen zum Schluss die Kehle durchgeschnitten.» Die Täter, fünf junge Männer im Alter von 18 bis 20 Jahren, sind verhaftet worden. «Es sind türkische Nationalisten, die die Auffassung vertreten, sie hätten das für das Vaterland getan, um der Türkei gegen missionarische Tätigkeit zu helfen.»

Anwälte sprechen von Hintermännern

«Sie zeigten keinerlei Unrechtsbewusstsein.» Vergangenen Donnerstag verlas ein Vertreter der Nebenklage eine 28-seitige Anklageschrift, dann wurde das Verfahren vertagt auf den 14. Mai 2010. «Ich sprach mit verschiedenen Anwälten, auch mit jenen der Opferfamilie. Sie waren alle der Meinung, dass die Angeklagten noch Hintermänner haben müssen, dass es auf keinen Fall ein Verbrechen war, das sie aus eigenem Antrieb unternommen haben, sie glauben, dass da andere Mächte involviert sind.» Genaues habe niemand sagen können. Aber auch ihm selbst sei klar geworden, dass es da staatliche Querverbindungen geben müsse. «Dieses Verbrechen ist möglicherweise von Geheimdienstkreisen mit in Auftrag gegeben worden.»

Packen die Angeklagten aus?

Es sehe auch deswegen so aus, als ob eine Einflussnahme von dritter Seite da ist, weil die Angeklagten selber gesagt haben, «der Staat wird uns helfen, wir werden dieses Verfahren als freie Männer verlassen». Sie erwarten die Hilfestellung einer anderen Macht, gibt CSI-Mitarbeiter Gunnar Wiebalck zu Protokoll. «Ihr Übermut vor Gericht, ihr Gelächter, ihre Unbekümmertheit, alles macht den Eindruck, als ob sie sich sicher fühlen.» Das Verfahren dürfte dennoch auf drei Mal Lebenslänglich hinauslaufen, so wie es der Staatsanwalt gefordert hatte. «Sollte dies geschehen, kann es sein, dass sie zu reden beginnen und über ihre Auftraggeber sprechen.»

Vergeben

Fernsehsender, die türkische Zeitung «Hürriyet» - das Interesse der türkischen Presse ist gross. In der Öffentlichkeit hafte dem Begriff «missionieren» immer noch etwas Illegales an, auch wenn die Gesetzeslage Religionsfreiheit gewährt. Tilmann Geske und seine Mitarbeiter hatten da also eine schwierige Aufgabe. Dennoch sei die Aufmerksamkeit an dem Prozess gross, einerseits wegen der Grausamkeit der Tat, andererseits wegen Aussagen der Witwe Susanne Geske, die jahrelang in Malatya gewohnt hatte und noch heute da wohnt. «Sie hat zu Protokoll gegeben, dass sie den Mördern ihres Mannes verzeiht und keine Rache will und dass sie Religionsfreiheit in der Türkei möchte und ein gutes Beispiel für den christlichen Glauben abgeben will.»

«Mutti, lass uns die Mörder besuchen»

Susanne Geske sagte auch, ihre achtjährigeTochter Miriam habe gesagt: «Mutti, lass uns die Mörder im Gefängnis besuchen und ihnen ein neues Testament bringen, so dass sie die christliche Botschaft erkennen und in der Ewigkeit die Ermordeten um Verzeihung bitten können.» Diese Verzeihungsbereitschaft mache einen grossen Eindruck in der Öffentlichkeit, diese Abwesenheit der Rachegedanken. «Vergeltung ist in der anatolischen Kultur verbreitet, in diesem Gebiet gibt es noch Blutrache. Wenn man nun eine Witwe hört, die sich in Radio und Fernsehen so äussert, wird der Sache Jesu ein guter und wichtiger Dienst erwiesen in der Türkei. Sie hinterliess einen tiefen Eindruck bei den Reportern und Journalisten.» Auch der Nebenkläger Erdal Dogan habe sich sehr beeindruckt gezeigt von der Haltung der Susanne Geske. «Er sagte, er werde jeden Stein umdrehen, um herauszufinden, wer die Hintermänner sind.»

Türkei hat viele Gesichter

Mit grösster Sympathie für die Opfer würden Dogan und seine Anwaltskollegen ans Werk gehen. «Die Türkei hat mehr Gesichter als wir denken und ich habe eines der besten Gesichter des Landes gesehen, trotz der Tragik des Falles.» Heute ist die Türkei zu über 99 Prozent muslimisch, vor mehreren Jahrhunderten war es noch eine christliche Nation, davon zeugen bereits die Sendschreiben der Bibel, die an verschiedene Orte in der Türkei gingen. Später folgten die Massenmorde an den türkischen Armeniern und Assyrern, das Priesterseminar in Istanbul ist geschlossen, Missionare werden mit grossem Misstrauen beachtet und die Regierung tut wenig um diese diffusen Ängste abzubauen.

«Die Religionsbehörde ist ebenfalls wenig christenfreundlich. Die christliche Minderheit hat keinen einfachen Stand, doch es gibt Anzeichen zur Verbesserung der Situation. Es gibt eine Missionstätigkeit, die nicht verboten ist, sie brachte bekannte und glaubensstarke türkische Pfarrer hervor. Die christliche Botschaft habe in der Türkei wieder Fuss gefasst und mit ihrer Haltung hinterlassen die Christen einen guten Eindruck in der Gesellschaft.» Die Lage sei nicht hoffnungslos.

Datum: 22.04.2010
Autor: Daniel Gerber
Quelle: Livenet.ch

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