Die Hölle, das sind wir: Der Holocaust als Mahnung

Was die Nazis unter Hitler den Juden Europas antaten, schildert Saul Friedländer erdrückend detailliert. Und so einfühlsam, dass es der Leser kaum erträgt und sich doch zumuten will. Es gab nicht nur Täter. Der jüdische Historiker zeigt, dass Feigheit, kaltes Kalkül und Verblendung auf Seiten der Nazi-Gegner dem Fanatismus der Vollstrecker zuarbeiteten. Als die Massenmordmaschine anlief, wäre viel zu versuchen und einiges abzuwenden gewesen.

Auf die Jahre der Verfolgung und Ausgrenzung folgten „Die Jahre der Vernichtung“: Acht Jahre nach dem ersten hat Saul Friedländer 2006 den zweiten Band seines grossen Werks „Das Dritte Reich und die Juden“ vorgelegt. Fast 700 Seiten Text – Unmenschlichkeit und Hass, Angst und Grauen. Ein rassistisches Vernichtungsprogramm ohnegleichen, mitten in Europa ersonnen und mit zahlreichen Mittätern und Mitwissern ins Werk gesetzt. Jahre rücken nahe, die so fern nicht sind. Überlebende sind noch unter uns, und eben wurden zehn ehemalige SS-Angehörige wegen eines Massakers 1944 in Italien zu lebenslänglicher Haft verurteilt.

„Was kann Gott mit all diesen Katastrophen bezwecken?“

Nahe rücken jene Jahre, in denen die Juden als Volk zu Untermenschen degradiert und sechs Millionen von ihnen ermordet wurden, besonders in den Zeugnissen der Gequälten: Saul Friedländer lässt Geängstete, Verfolgte, Untergetauchte und Fliehende zu Wort kommen. „Unsere Leiden haben unsere Missetaten bei weitem aufgewogen“, schrieb der 16-jährige Moshe Flinker, dessen orthodox gläubige Familie 1942 in Belgiens Hauptstadt Brüssel zog, am 26. November in sein Tagebuch. „Welches andere Ziel könnte der Herr haben, wenn er es zulässt, dass solche Dinge über uns kommen? Ich bin sicher, dass weiteres Unheil keinen Juden auf die Wege der Rechtschaffenheit zurückbringen wird. (…) Was kann Gott mit all diesen Katastrophen bezwecken, die uns in dieser schrecklichen Zeit zustossen? Mir scheint, dass die Zeit für unsere Erlösung gekommen ist…“ (S. 470).

Der Jude als „tödliche und aktive Bedrohung“

Mit der Brillanz des grossen Historikers, der unzählige Einzelheiten zusammenfügt, die grossen Linien auszieht und den Blick in die Abgründe nicht scheut, beschreibt Friedländer, wie Hitler und seine Helfer die ‚Endlösung’ der Judenfrage ins Werk setzten. Er rapportiert die Massaker in den eroberten Ostgebieten („Am 12. November 1941 befahl Himmler…, die etwa 30'000 Juden des Rigaer Ghettos zu ermorden“). Er lässt uns hineinhören in die Hasstiraden des Führers, der die Nachfahren Abrahams zu Untermenschen und Teufeln machte, um sich als Retter Europas aufzuspielen. Immer wieder hämmerte er seinen Untertanen ein, was Friedländer im Satz zusammenfasst: „Der Jude war eine tödliche und aktive Bedrohung für alle Nationen, für die arische Rasse und für das deutsche Volk.“

Am Anfang war der Hass

Der in den USA lehrende Historiker beschreibt die Shoah – der Begriff, den die Juden ‚Holocaust’ vorziehen – im Zusammenhang des katastrophalen Kriegsverlaufs im Osten. Der Feldzug mochte demografische und wirtschaftliche Ziele haben. Aber Friedländer stellt „ideologisch-kulturelle Faktoren“ als die wesentlichen Triebkräfte der Nazis heraus: ein Hass auf ‚den Juden’, der sich nach dem Ersten Weltkrieg als Gegenkraft gegen Liberalismus, Sozialismus und Kommunismus (verkörpert im ‚Weltbrandstifter’) verfestigt und verschärft hatte.

Frucht der Dämonisierung

Nach Friedländer bleibt unklar, wann genau Hitler den Entscheid zur Ausrottung der Juden Europas getroffen hat, „das Überschreiten der Grenze zwischen örtlich begrenzten Mordaktionen und allgemeiner Vernichtung“ nach Deportation. Er sieht den Diktator im Bann seiner eigenen ‚Prophezeiung’ vom Januar 1939, in der er den Juden Europas ihr Ende angekündigt hatte. „Ein Prophet konnte es sich nicht leisten zu zögern, wenn die Umstände, welche die Erfüllung der Prophezeiung einläuteten, tatsächlich eintraten; ein Erlöser konnte in diesem entscheidenden Augenblick nicht davor zurückschrecken, eine offene und wiederholte Drohung in die Tat umzusetzen.“

Beschleunigung 1942

Die langjährige Verteufelung der Juden als Menschheitsbedrohung forderte ihren Tribut: „Es war an der Zeit, den harten Kern der Parteimitglieder einen zunehmend notwendigen Geschmack von Vergeltung kosten zu lassen“ (S. 315f). Infolge von Kompetenzgerangel und Rivalitäten zwischen der SS und anderen Hierarchien war Sand im Getriebe, und doch war die Infrastruktur zur Deportation und Vernichtung von Millionen wenige Monate nach der berüchtigten Planungskonferenz in Berlin-Wannsee (20. Januar 1942) erstellt. Ein Anschlag in Berlin und das Attentat auf Heydrich im Mai führten „zur generellen Beschleunigung und Radikalisierung der ‚Endlösung’“. In Treblinka wurden vom Tag der Eröffnung, am 22. Juli 1942, bis Ende August etwa 312 000 polnische Juden vergast.

„Wir werden zu Tausenden abgeschlachtet“

Saul Friedländer, 1932 in Prag geboren, ist dem Zugriff der Barbaren nur knapp entgangen. Die Familie floh nach Frankreich. Als seine Eltern in die Schweiz zu gelangen versuchten, wurden sie von Vichy-Gendarmen aufgegriffen und nach Auschwitz deportiert. Saul überlebte, versteckt in einem katholischen Internat. 1948 ging er nach Israel, später wanderte er in die USA aus, wo er sich als Historiker der Nazizeit einen Namen machte.

Sein neues Buch bezieht eine Unzahl von Einzelaspekten und diverse Ebenen ein: Regelungen für Mischlinge, der zunehmende Zwangsarbeiter-Bedarf, die Bereitschaft von Anwohnern, Wohnungen von Juden zu plündern, der Eifer von Kollaborateuren, der tief wurzelnde Judenhass in Polen. Friedländer schildert die Grauen erregenden Mordaktionen in den eroberten Gebieten im Osten, die Illusionen der Todgeweihten und die zum Scheitern verurteilten Versuche von Ghetto-Leitern, ihren Leuten das Überleben zu ermöglichen. „Ich habe das Gefühl, wir sind wie Schafe. Wir werden zu Tausenden abgeschlachtet, und wir sind hilflos“, notierte ein Teenager in Wilna.

Widerstand in den Satellitenstaaten

Breiten Raum nehmen im akribisch recherchierten Buch (über 2300 Anmerkungen) das deutsche Ausgreifen auf die Satellitenstaaten und die Versuche von deren Machthabern ein, der Mordlust der Nazis zu wehren. Obwohl sich überall kaltblütige Vollstrecker des Vernichtungsprogramms fanden, zeigen sich deutliche Unterschiede: Italiens und Bulgariens Machthaber setzten den Deutschen starken Widerstand entgegen; die Massendeportationen aus Ungarn (von 800 000 Juden 500 000 ermordet) erfolgten erst 1944.

In Belgien fanden „auf allen Ebenen der Gesellschaft Rettungsaktionen grossen Stils“ statt und der Anteil der Geretteten war weitaus höher als in den Niederlanden, wo sich die Deutschen „auf die Unterwürfigkeit der Polizei und des öffentlichen Dienstes verlassen konnten“. Mutige Holländer, laut Friedländer meist Christen, leisteten indes Tausenden von Verfolgten Hilfe (S. 439).

Viele Juden suchten in die Schweiz zu gelangen; dort galt ab August 1942 bis Ende 1943 die Weisung aus Bern, politische Flüchtlinge nicht zurückzuschicken. Aber „Flüchtlinge nur aus Rassengründen, z.B. Juden, gelten nicht als politische Flüchtlinge“. Obwohl diese Unterscheidung, wie der eidgenössische Polizeichef Heinrich Rothmund selbst zugab, eine Farce war.

Lesen Sie auch: Die Kirchen Europas schwiegen zur Shoah

Saul Friedländer
Die Jahre der Vernichtung
Das Dritte Reich und die Juden, Zweiter Band: 1939-1945
870 Seiten
Verlag C.H. Beck, München, 2006
ISBN 3 406 54966 7

Zum Thema:
Saul Friedländer an der Frankfurter Buchmesse
Hass und Misshandlung überlebt

Schatten des Holocausts: „Es ist Zeit für Vergebung“
Kommentar: Was wir aus dem Holocaust lernen sollten

Datum: 26.01.2007
Autor: Peter Schmid
Quelle: Livenet.ch

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