Verstörendes Umfrageergebnis

Bieten Kirchen keinen Raum für Kinder mit Autismus?

Eine neue Studie aus den USA belegt das, was auch betroffene Eltern in der Schweiz und Deutschland wahrnehmen: Kirchen und Gemeinden tun sich schwer damit, Kindern mit Problemen wie Autismus, Lernschwierigkeiten, Depressionen und Verhaltensauffälligkeiten einen Raum zu bieten.

In einer der bekanntesten Stellen im Neuen Testament spricht Jesus mit anderen über den Glauben und erklärt gerade, dass Gott jeden annimmt. Ein paar Mütter nehmen das wörtlich und bringen ihre Kinder, «damit er sie anrühre». Doch die Jünger meinen zu wissen, dass Kinder hier nur stören – es geht immerhin um Erwachsenenangelegenheiten! – und wollen sie verscheuchen. «Aber Jesus rief sie zu sich und sprach: Lasst die Kinder zu mir kommen und wehrt ihnen nicht, denn solcher ist das Reich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, wird gar nicht hineinkommen!» (Matthäus, Kapitel 18, Vers 16-17).

Mit einer biblischen Aussage wie dieser im Hintergrund, wiegt das Ergebnis der Studie «Religion und Behinderung» noch schwerer. Denn die US-Studie zeigt, dass Kinder mit Einschränkungen viel seltener ihren Weg in Kirchen und Gemeinden finden.

Anlass der Studie

Der Soziologe Andrew Whitehead initiierte die Untersuchung. Er ist Vater zweier Kinder mit Autismus und hat viel von der Ablehnung selbst erlebt, die als Ergebnis der Studie herauskommt. Seine Frau und er wurden weitgehend mit ihrer Situation alleingelassen, trotzdem haben sie sich inzwischen mit ihrer Kirche arrangiert. Allerdings mussten sie immer wieder Auszeiten für sich als Familie nehmen. Gegenüber «Christianity Today» erzählt der Vater: «Wir haben über ein Jahr lang an keinem Gottesdienst teilgenommen, weil wir weder die Kraft hatten, eine neue Gemeinde zu suchen, noch uns immer allein um die Bedürfnisse unserer Kinder zu kümmern, zusätzlich zu der Betreuung, die wir die Woche über sowieso schon leisteten.» Damit steht Whitehead sicher für viele Eltern – mit dem Unterschied, dass etliche keinen Anschluss an ihre oder eine andere Gemeinde mehr finden.

Zahlen der Ablehnung

Die Studie «Religion und Behinderung. Zahlenmässige Unterschiede im Gottesdienstbesuch bei Kindern mit chronischen gesundheitlichen Einschränkungen» wurde im Juni 2018 im «Journal for the Scientific Study of Religion» veröffentlicht. Sie beschreibt die Situation von Kindern mit Autismus, Lernschwierigkeiten, Depressionen und Verhaltensauffälligkeiten (wie ADS/ADHS) in den USA. Der kirchliche Hintergrund variiert zwischen evangelisch, katholisch und dem, was in Europa als freikirchliches Spektrum bekannt ist.

Die Verknüpfung von (behinderten) Kindern und Gemeinde ergab unter anderem:
•    Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder mit Autismus nie einen Gottesdienst besuchen, ist 1,84-mal höher als für Kinder ohne chronische Beschwerden.
•    Die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder mit Depressionen und Angstzuständen nie an einem Gottesdienst teilnehmen, ist 1,73-mal höher.
•    Die Wahrscheinlichkeit, dass solche mit einer Verhaltensstörung oder oppositionellem Trotzverhalten niemals teilnehmen, ist 1,48-mal höher.
•    Für entwicklungsverzögerte oder lernbehinderte Kinder liegt die Wahrscheinlichkeit 1,36-mal höher.
•    Selbst für Kinder mit ADS/ADHS ist sie 1,19-mal höher.

Dies sind «nur» Zahlen. Aber hinter all diesen Zahlen stecken Familien und einzelne Personen, die durch ihre Einschränkungen stärker als andere darauf angewiesen sind, dass man ihnen einen Schritt entgegengeht.

Was können wir tun?

Zwei Reaktionen beschreiben Whitehead und andere Betroffene als «typisch für Gemeinde»: Es kommen Blicke oder es wird deutlich geäussert, dass man die Kinder doch bitte ruhig halten sollte. Oder es kommen Gebetsangebote. Die sind an sich nicht verkehrt, doch wenn nicht innerhalb von 14 Tagen Heilung oder Besserung geschehen ist, dann steht oft die Frage im Raum, was denn da im Weg steht… Und die unausgesprochene und völlig falsche Annahme ist: die Eltern.

Gerade durch die sehr unterschiedlichen Ansprüche der Kinder mit ihren verschiedenen Einschränkungen ist es schwierig für Kirchen und Gemeinden, einen Weg zu finden, wie sie ihnen begegnen können. Was in jedem Fall möglich ist, beschreibt Whitehead: «Auf jeden Fall können sie es einrichten, dass Familien gesehen werden, gehört, wertgeschätzt. Das ist schon ein deutlicher Schritt weg von einer weiteren bürokratischen Hürde, die diese Familie bewältigen muss. Stattdessen können diese Gemeinschaften Orte der Ruhe und Zuflucht für sie werden.»

Seine Hoffnung in Richtung der vielen Christen in unseren Kirchen und Gemeinden ist: «Ich würde mir wünschen, dass diese Untersuchung eine Art Weckruf für die religiösen Gemeinschaften in unserem Land ist. In vielerlei Hinsicht sind die betroffenen Menschen unsichtbar, weil sie darin kaum auftauchen – und wenn sie es tun, machen sie oft negative Erfahrungen und kehren nie zurück.»

Zum Thema:
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Datum: 26.07.2018
Autor: Hauke Burgarth
Quelle: Livenet / Christianity Today

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