Ein Jahr nach dem Fall Hybels

Stefan Gerber: «Wir erlebten hier in der Schweiz viel Anteilnahme

Vor rund einem Jahr geriet Willow Creek in die Schlagzeilen, als Vorwürfe gegen den Gründer Bill Hybels öffentlich wurden, er habe Mitarbeiterinnen sexuell belästigt. Dies war ein Erdbeben, das bis in die Schweiz zu spüren war. Livenet sprach mit Stefan Gerber, Geschäftsführer von Willow Creek Schweiz.

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Stefan Gerber (Bild: zVg)
Livenet: Stefan Gerber, ihr habt als Willow Creek schwierige Zeiten hinter euch. Es ist ziemlich genau ein Jahr her, als erstmals Anschuldigungen gegen Bill Hybels laut wurden. Wie seid ihr damit umgegangen?
Stefan Gerber:
Für uns bei Willow Creek war es zuerst eine persönliche Not, weil Bill Hybels für uns alle eine solch inspirierende Persönlichkeit ist. So war der Schmerz sehr gross. Es herrschte zudem riesige Verwirrtheit. Wir konnten es nicht einordnen – wir können es heute noch nicht – was überhaupt genau vor sich ging. Warum kommen aus dem Lager der prominenten, christlichen Führungspersonen diese Angriffe? Was sind die Motive? Und das so kurz vor der Pensionierung von Bill Hybels?

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Der Konferenzsaal war gut gefüllt.
Aber es hatte auch eine schöne Seite. Wir erlebten hier in der Schweiz viel Anteilnahme. Da waren viele Leute, die sagten, sie stünden hinter uns. Sie wussten offensichtlich gut zu unterscheiden zwischen einer Person, die sicher ein Fehlverhalten aufwies und der Arbeit, die wir weltweit machen.

Und natürlich war die Konferenz in Winterthur Anfang Februar ein klares Statement für uns, dass die Leute nach wie vor zu Willow Creek stehen. Wir hatten über 400 Tagesgäste, im Vergleich zur letzten Konferenz in der Schweiz entspricht dies einer Verdreifachung der Teilnehmerzahl!

Was beim Fall Hybels viele irritierte, war dessen Schweigen. Das wurde auch beim Partner-Lunch der Konferenz in Winterthur thematisiert. Karl Heinz-Zimmer von Willow Creek Deutschland bestätigte, dass sich Bill Hybels weiterhin nicht öffentlich äussern wolle. Wie ist das für Sie?
Die Frage ist einfach, wenn man sich in seine Position versetzt, was soll er denn sagen? Wenn er etwas zu bekennen hat, dann sollte er nach vorne stehen, seine Fehler eingestehen und die Vergebung, die er jahrelang gepredigt hat, selbst in Anspruch nehmen. Doch er kann sich nicht zu etwas schuldig bekennen, das nicht geschehen ist.

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Bill Hybels, Gründer der Willow Creek Community Church
Aber er könnte sich doch so oder so entschuldigen?
Das hat er schon gemacht. Bei seinem Abgang gestand er, dass es Situationen gegeben habe, in denen er sich wahrscheinlich nicht glücklich verhalten hatte. Das tue ihm leid. Und wenn er heute sagt, dass er dem mindestens im Moment nichts weiter beizufügen habe, dann verstehe ich sein Schweigen. Aber es ist für uns alle schwer auszuhalten.

Ihr habt als Willow Creek Schweiz bereits früh ein Statement abgegeben: «Jetzt erst recht». Ihr wollt in Leiterschaft investieren. «Reife Leiterschaft» war das Stichwort, das oft zu hören war. Was bedeutet das für Sie?
Für mich hat das vor allem mit ehrlicher Leiterschaft zu tun und bedeutet, dass ich auf der Bühne nicht etwas spiele, das ich nicht bin. Bill Hybels hat uns das immer vorgepredigt. Im Moment könnte man sich fragen, ob er es auch wirklich vorgelebt hat. Was es braucht, damit man eine reife Persönlichkeit ist, ist Reflektiertheit:  sich immer wieder in die Stille zurückziehen, gute Leute um sich haben, die einem ins Leben reden können. Es ist schwierig, einem erfolgreichen Geschäftsmann oder Pastor – eigentlich egal in welchem Bereich – einen blinden Fleck aufzuzeigen.

Als Leiter geht man immer Risiken ein – auch das Risiko, in einer Aufgabe zu scheitern. Damit scheinen Leiterinnen und Leiter oft Schwierigkeiten zu haben. Warum fällt uns das so schwer, auch mal ein Scheitern zu akzeptieren?
Ich habe den Eindruck, wir lernen lieber von denen, bei denen alles so wie Gold glänzt, wo zum Beispiel die Gemeinde wächst. Dabei hätten Leute, die gescheitert sind, uns auch viel zu erzählen. Vielleicht haben sie etwas darüber herausgefunden, warum sie gescheitert sind? Hören wir doch auf, immer nur auf das zu achten, was wunderbar funktioniert und dies im dümmsten Fall noch zu kopieren. Wir sollten auch die Brüche und Schwierigkeiten anschauen.

Wo sind Sie schon gescheitert als Leiter? Gibt es da etwas, über das Sie offen sprechen können, weil es vielleicht schon länger zurückliegt?
Eigentlich finde ich es gar nicht so schlecht, wenn man über Sachen redet, was nicht schon abgeschlossen ist. Das klingt sonst immer so schön: «Ja, vor fünf Jahren gings mir mal schlecht und heute ist alles gut». Ich erzähle von einer Herausforderung, in der ich mitten drin bin: Wir sind seit 20 Jahren bei uns im Ort dran, eine Gemeinde zu bauen. Und immer wieder kommt es uns wie ein Treten am Ort vor. Der Erfolg ist einfach nicht da. Leute kommen und sagen: «Hey, wir bewundern euch, ihr seid da schon 20 Jahre dran und macht das.» Für mich als Leiter dieser Gemeinde ist es aber eine Geschichte, die viel mit Scheitern zu tun hat. Bis heute ist es uns nicht gelungen, etwas aufzubauen, was grosse Kreise zieht. Ich habe immer das Gefühl, wir gehen einen Schritt nach vorne und dann zwei zurück. Da bin ich oft mit Gott am Ringen: «Hey, lieber Gott, könntest du nicht ein bisschen mehr Wunder wirken?» Oder die andere Frage: «Lieber Gott, was möchtest du, wie lange ich das Ganze noch machen soll?». Das ist so ein Kampf, in dem ich aktuell noch stecke. Ich weiss im Moment nicht, wo es hinführt.

Das gibt einem ein Bild von «reifer Leiterschaft», wenn jemand so offen und verletzlich über Fragen und Zweifel spricht. Vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview mit Stefan Gerber mit einigen zusätzlichen Fragen hier als Video:


Zum Thema:
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Datum: 16.02.2019
Autor: Florian Wüthrich / Annina Morel / Luca Surbeck
Quelle: Livenet

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