Seelsorger Beat Tanner

«Auch Christen fragen immer weniger, was Gott eigentlich will»

Seine Christliche Fachstelle für Ehe, Familie, Erziehung und Lebensberatung feiert in diesem Jahr das 10-jährige Bestehen. Seelsorger Beat Tanner beobachtet eine zunehmende Selbstbezogenheit. Egoismus oder Narzissmus mache auch vor Christen nicht halt.

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Beat Tanner
Livenet: Beat Tanner, wer braucht Ihrer Meinung nach Seelsorge?
Beat Tanner: Wir Menschen sind immer von Seelsorgern umgeben, denken wir nur schon an unseren Ehepartner, unsere Freunde, unsere Geschwister in der Gemeinde. Und wir sind auch selbst immer Seelsorger. Als Christen können wir auf zweierlei Weise Seelsorger sein: Entweder deuten wir mit unserem Leben auf Christus hin, indem wir Gottes Güte, Gerechtigkeit und Ehre reflektieren oder wir weisen auf uns selbst hin und suchen vor allem unsere eigene Ehre. Petrus beschreibt dies in der Bibel sehr klar: «Aber ihr seid anders, denn ihr seid ein auserwähltes Volk. Ihr seid eine königliche Priesterschaft, Gottes heiliges Volk, sein persönliches Eigentum. So seid ihr ein lebendiges Beispiel für die Güte Gottes, denn er hat euch aus der Finsternis in sein wunderbares Licht gerufen.» (1. Petrusbrief, Kapitel 2, Vers 9)

Seelsorge ist also nicht nur etwas für «Profis», die dann eine Seelsorgepraxis führen. Es geht uns alle an.

Dann bräuchte es ihre Christliche Fachstelle für Ehe, Familie, Erziehung und Lebensberatung also gar nicht?
Sicher gibt es Situationen, wo man professionelle Hilfe braucht. Aber im Grundsatz ist es schon so: Je echter Beziehungen im natürlichen Umfeld und in den Gemeinden gelebt werden, desto weniger braucht es professionelle Seelsorger.

Sprechen wir doch noch etwas über Ihren Alltag als Seelsorger. Sie feiern ja mit ihrer Praxis das 10-jährige Jubiläum. Haben sich die Themen der Beratungen in den letzten 10 Jahren verändert? Was plagt die Menschen heute?
Persönlich blicke ich sogar auf 20 Jahre als Seelsorger zurück. Was sicher im Laufe der letzten Jahre zugenommen hat, ist die Selbstbezogenheit, man könnte auch von Egoismus oder Narzissmus sprechen. Auch bei Christen beobachte ich, dass das «Ich» und das «Jetzt» immer wichtiger werden. Viele wollen eine schnelle, praktische Lösungen, die eine Lebenserleichterung bringt und sind nicht bereit, ernsthaft die Frage zu stellen, was Gott eigentlich will. Dieser Wunsch, ein Leben zur Ehre Gottes zu führen, tritt leider vermehrt in den Hintergrund. Diverse Untersuchungen sind ebenfalls zum Schluss gekommen, dass Gott als Instanz nicht mehr so wichtig ist.

Was sind die Highlights für Sie als Berater?
Das Grösste ist, wenn ich merke, wie einem Menschen die Augen aufgehen für das, was Jesus getan hat. Das sind eindeutig die Highlights. Um ein Beispiel zu nennen: Eine Pastorenfrau war bei mir in der Beratung. Sie litt unter Angstzuständen und war auch depressiv. Jahrelang hatte sie nach dem Grund gesucht. Doch es brauchte eine Berührung mit Jesus, die kein Seelsorger machen kann, sondern nur Gott selbst. In diesem Moment erkannte sie, dass sie seit ihrer Kindheit durch Scham gehemmt wurde. Als sie mit ihrem Herz und Verstand begriff, dass Jesus alle Scham am Kreuz getragen hat, konnte langsam Heilung beginnen.

Wann ist ein Seelsorgegespräch für Sie eher enttäuschend?
Wenn ich merke, dass sich ein Mensch hinter den Feigenblättern versteckt und alles mit Selbstrechtfertigungen schönredet. Das kennen wir ja bereits von Adam und Eva. Schon sie haben versucht, ihre Fehler zu vertuschen und Gott und den Anderen dafür verantwortlich zu machen (1. Mose, Kapitel 3). Es macht mich traurig, wenn ich sehe, was die Sünde kaputt machen kann. Aber wir Seelsorger können nicht die Verantwortung für das Leben des Nächsten übernehmen, sondern dürfen unsere Mitmenschen unter der gütigen Führung Gottes wissen.

Die Entwicklung hin zu einer grösseren Oberflächlichkeit im Umgang mit anderen Menschen ist ein Grund, warum es dazu kommt. Wir verlernen es, echte Beziehungen zu leben, haben 1'000 Freunde auf den «Social Media»-Portalen, aber im Herzen sind wir leer.

Braucht ein Seelsorger auch Seelsorge?
Auf jeden Fall. Mir ist wichtig, dass ich bereit bin, mich von anderen Menschen hinterfragen zu lassen, besonders von meiner Frau. Die Frage ist: Höre ich ihr zu, wenn ihr etwas auffällt? Oder auch unsere Kinder können uns manchmal etwas aufzeigen, was in unserem Herz nicht stimmt. Was hat es zum Beispiel mit mir als Vater zu tun, wenn ich mit dem einen Sohn immer Machtkämpfe austrage. Die wichtigste Seelsorge geschieht also in der Familie. Die Juden haben die Familie ja schon immer als kleinste Gemeinde verstanden. Und sie haben recht damit. Auch der Schweizer Schriftsteller und Pfarrer Jeremias Gotthelf hat gesagt: «Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland.»

Zur Person

Beat Tanner ist Leiter der Christlichen Fachstelle für Ehe-, Familie-, Erziehungs- und Lebensberatung in Aarau und hat in den USA in praktischer Theologie promoviert. Er ist Gründer und Leiter der christlichen Seelsorgeausbildung CSA. Der nächste Ausbildungskurs der CSA beginnt im August in Aarau (siehe auch www.seelsorge-schweiz.ch). Ein Informationsabend für den nächsten Ausbildungsgang findet am Donnerstag, 21. Mai 2015, 20.00 Uhr in den Räumlichkeiten der Christlichen Fachstelle an der Bleichemattstrasse 15 in Aarau statt.

Zur Webseite:
Christliche Fachstelle für Ehe, Familie, Erziehung und Lebensberatung
Beratungsverzeichnis

Zum Thema:
Vier Fragen – vier Antworten: «Der Seelsorger muss Schüler bleiben»
Chef der Armeeseelsorge: Stefan Junger: «Momente der Ruhe und Besinnung tun gut»
Wertvoll-Akademie: «Zu 50 Prozent ist jeder selbst dafür verantwortlich, wie es ihm geht!»

Datum: 02.05.2015
Autor: Florian Wüthrich
Quelle: Livenet

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