Solidarität als Religion?

Pfarrer Peter Schafflützel: «Solidarität ist mehr als Distanz zu wahren»

Ist Gesundheit das Wichtigste? Peter Schafflützel, Pfarrer in Fischenthal ZH, stellt diese Meinung infrage – auch vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie. Er meint: Solidarität ist wichtig. Aber sie darf nicht zur Religion werden.

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Peter Schafflützel (Bild: Mirjam Fisch-Köhler)
Peter Schafflützel, Sie schreiben in der NZZ, der gesellschaftliche Umgang mit dem Coronavirus nehme religiöse Züge an. Woran machen Sie das fest?
Peter Schafflützel:
«Religiös» meine ich im ursprünglichen lateinischen Sinn. Die Römer schrieben ihren Erfolg der Ausübung ehrfürchtiger «religio» zu. Sie gaben den Göttern, was sie ihnen schuldeten, und wurden von ihnen mit Frieden, Gesundheit, sozialer Harmonie und Wohlstand belohnt. Vernachlässigung der frommen Praktiken konnte die Götter erzürnen und so dem Volk schaden. Menschen, die sich nicht an die religiösen Regeln hielten – wie zum Beispiel die Christen –, galten darum als unsolidarisch und asozial und wurden bisweilen verfolgt und bestraft.

Wo sehen Sie die Parallelen zur Gegenwart?
Als die Leichenbilder aus Italien in den Medien gezeigt und die Schweizer Bevölkerung von Angst ergriffen wurde, kam eine ähnliche Haltung zum Vorschein. An sich zweckmässige Hygiene-Massnahmen wurden zu Ritualen, an denen man die Solidarität von Menschen bemass; sie wurden erweitert mit kollektiven Ritualen wie dem Solidaritäts-Applaus am Fenster. Wer nicht solidarisch war, gefährdete die Gesundheit des Volkes. Die kollektive Emotion, die ich wahrnahm, war: «Wenn wir uns alle an die Regeln halten und zu Hause bleiben, zieht das Unheil vielleicht vorüber.» Wer diese Haltung infrage stellte, wurde an den Pranger gestellt und als unsolidarisch, asozial, «Corona-Leugner» oder «Covidiot» verurteilt. Das ist nicht mehr die Haltung einer offenen Gesellschaft. Das ist die Haltung einer religiösen Gesellschaft. 

Warum hinterfragen Sie den Gedanken der Solidarität?
Solidarität ist nicht automatisch dasselbe wie Liebe. Nehmen wir das Händewaschen. Händewaschen ist zum Solidaritätsakt geworden. Wer sich nicht die Hände wäscht, trägt zur Verbreitung des Virus bei, was wegen einer Überlastung der Spitäler dazu führen könnte, dass Ärzte entscheiden müssten, ob sie Jüngeren den Vorrang gegenüber alten Menschen mit Vorerkrankungen geben. Händewaschen war auch im Umfeld von Jesus ein Solidaritätsakt. Das Händewaschen vor dem Essen stammt von der Vorschrift für die Priester, sich vor dem Tempeldienst zu reinigen, und galt den Pharisäern als «Überlieferung der Alten», als Teil des Gesetzes. Wer sich nicht die Hände wusch, trug zur Verunreinigung des Volkes bei, sodass es nicht für das Kommen des Messias und den Anbruch der Herrschaft Gottes bereit wäre. Sich nicht die Hände zu waschen, war in den Augen der Pharisäer darum höchst unsolidarisch. Trotzdem war Jesus gegen dieses Solidaritätsritual, man lese Matthäus Kapitel 15. Es geht um die Frage, worauf die Solidarität zielt. Den Pharisäern ging es darum, das Volk kultisch rein zu halten. Davon versprachen sie sich das Heil. Jesus ging es um die Liebe. Darum kritisierte er die Absage der Pharisäer an die Unterstützung ihrer Eltern mit den Worten: «Nicht was in den Mund hineingeht, macht den Menschen unrein, sondern was aus dem Mund herauskommt, das macht den Menschen unrein.»

Es geht doch um den Schutz von Risikogruppen.
Als Christ freue ich mich, wenn Menschen etwas von Gottes Liebe erfahren, indem sie von einer Krankheit geheilt oder von ihr verschont werden. Das kann für sie ein Schritt auf dem Weg zur Versöhnung mit Gott und zum ewigen Leben werden. Und ich liebe alte Menschen! Ich staune immer wieder über die Lebensgeschichten, die ich von ihnen höre, bin beeindruckt, wie sie ihre Herausforderungen meistern, und sehne mich danach, dass sie auch im Leiden und Sterben die Umarmung Gottes spüren und wissen, dass nichts sie von der Liebe Gottes trennen kann, die sich in Jesus Christus offenbart. Darum zweifle ich, ob wir ihnen einen Dienst erweisen, wenn wir die Erhaltung ihrer Gesundheit zum obersten Gebot machen. Gerade die alten und gebrechlichen Menschen leiden am meisten unter den physischen Distanzierungsmassnahmen. Der Reformator Zwingli liess Pestkranke etwas von Gottes Liebe erfahren, indem er sie besuchte und dabei selber von der Seuche angesteckt wurde. War das nun solidarisch oder unsolidarisch? War Zwingli mit seinen Krankenbesuchen ein Botschafter Christi oder ein Pestidiot? 

Die Gesundheit ist das Wichtigste, so hört man oft. Stimmt das nicht?
Im Februar starb im Kantonsspital St. Gallen eine ansonsten völlig gesunde zwanzigjährige Frau an der Grippe. Das finde ich schlimm. Was die Frau noch alles an Liebe hätte erfahren und weitergeben können! Wir hätten ihren Tod vielleicht verhindern können, wenn wir schon im Januar alle auf Distanz zu einander gegangen und daheim geblieben wären. Und wir könnten vielleicht noch viele solche Todesfälle verhindern, wenn wir uns für den Rest des Lebens voneinander isolierten. Aber ist das die Welt, die wir der jungen Frau wünschen würden? Es wäre eine Welt, in der wir einander nur noch durch Masken oder mit zwei Meter Abstand oder via Internet Gottes Liebe erfahrbar machen könnten. Körperliche Gesundheit ist ein kostbares Gut, das viele Opfer wert ist. Aber sie ist nicht das einzige Gut. Sie ist nicht Gott. Wenn sie es wäre, wäre die Gesundheit ein sehr unbarmherziger Gott: Sie rächt gnadenlos jedes Vergehen gegen sie und bestraft uns am Ende mit dem Tod, auch wenn wir unser Leben lang alle ihre Gebote gehalten haben. In Jesus offenbart sich ein anderer Gott: Ein Gott, der sich liebevoll den Versagern, Regelbrechern und Sündern zuwendet und jedem ewiges Leben schenkt, der ihm vertraut. Das ist unsere Hoffnung! Wenn wir als Christen bei der Gesundheitsanbetung mitmachen, vermitteln wir der Welt, dass auch wir keine andere Hoffnung haben als einen Covid-19-Impfstoff.

Dennoch – dem Körper Sorge zu tragen, das ist doch von Gott empfohlen?
Christen gehen davon aus, dass ihr Leib «ein Tempel des Heiligen Geistes ist, der in euch wirkt und den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst gehört» (1. Korinther Kapitel 6, Vers 19). Leib und Seele sind das irdische Gefäss, das vom Geist Christi erfüllt und geprägt wird – unser Werkzeug, mit dem wir Gott ehren und seine Liebe anderen erfahrbar machen können. Pflege der körperlichen und auch der psychischen Gesundheit ist darum Teil unseres Gottesdienstes, bleibt aber der Liebe zu Gott und zu den Menschen untergeordnet. Sprich: Ich kann um der Liebe willen die Gesundheit auch mal aufs Spiel setzen. Als Nachfolger des Gekreuzigten sollte uns diese Vorstellung nicht fremd sein, geht es in der Nachfolge doch auch um die «Teilhabe an seinen Leiden», so Paulus in Philipper Kapitel 3, Vers 10.

Zurzeit hat die Wissenschaft das alleinige Sagen. Die Theologie fristet ein Schattendasein. Wie hoch ist Ihr Frust?
Die Berichterstattung über das neue Coronavirus hat eine Angstwelle ausgelöst. In ihrer Angst wenden sich die Menschen an die Instanz, die sie am geeignetsten halten, um die Bedrohung zu bekämpfen. Dass das bei einem Virus die Medizin ist, wundert mich nicht. Wenn die Angst vor einer finanziellen Bedrohung überhandnimmt, dann ist es die Wirtschaft. Mich wundert hingegen, wie auch auf politischer Ebene alle anderen Risiken ausgeblendet wurden und wie kaum jemand wagte, das Wort dagegen zu erheben, mit Ausnahme von vereinzelten Philosophen und Ökonomen. Mich hätte die Meinung von Soziologen zur weltweiten Angst-Dynamik interessiert, oder die Beobachtungen von Linguisten zu den neuen Begriffen, die ins Vokabular der Gesellschaft injiziert wurden, oder die Bedenken von Psychologen und Pädagogen zu den Auswirkungen der Massnahmen auf Kinder und Erwachsene. Manche Zeitungen wären durchaus an kontroversen Perspektiven interessiert gewesen. Auch an meinem theologischen Beitrag in der NZZ war das Interesse gross. Das Problem scheint weniger zu sein, dass die Theologie nicht gehört wird. Das Problem ist vielmehr, dass sie offenbar nichts zu sagen hat. Was hindert uns Theologen, Christen und Kirchen daran, den Ängsten der Welt unsere Hoffnung auf Jesus Christus gegenüberzustellen? Das ist die Frage, die mich umtreibt. 

Was ist denn Ihre Meinung zu Corona und Lockdown?
Ich denke, man dürfte in einer Demokratie den Bürgern mehr Mündigkeit und Selbstverantwortung zutrauen, will man nicht voraussetzen, dass unser Bildungswesen diesbezüglich versagt. Und wir Christen dürften einander mehr zutrauen, dass der Geist Christi auch im andern wirkt. Detaillierte Vorschriften von Verbänden an Gemeinden, wie sie die Vorschriften der Regierung auszulegen und umzusetzen haben, erinnern mich mehr an pharisäische Kasuistik als an christlichen Hirtendienst. Persönlich genoss ich die Ruhe, die durch die allgemeine Abriegelung in der Welt einkehrte, und ich denke, viele Menschen haben in dieser Zeit Wertvolles entdeckt. Als reiches Land konnten wir uns ein solches Experiment für einmal leisten. Mehr Sorgen machen mir die Länder, die es uns gleichtun, obwohl die Massnahmen sie um viele Jahre in der Armutsbekämpfung zurückwerfen. Die UNO teilte vor einigen Wochen mit, sie benötige knapp sieben Milliarden Dollar, um die Menschen in den ärmsten Ländern in dieser Krise vor dem Schlimmsten zu bewahren. Verglichen mit den gigantischen Rettungspaketen, die in reichen Ländern geschnürt werden, ist das eine Marginalie. Trotzdem wurden bis jetzt gerade einmal 1,2 Milliarden Dollar gesprochen. Da werden die Grenzen der Solidarität schmerzhaft sichtbar. 

Zum Thema:
Dossier Coronavirus
El Salvador: Gebet mit Masken und Sicherheitsabstand
Volker Eschmann: «Ich sah noch nie so qualvoll Menschen sterben»
SAM-Mitarbeitende bleiben: «Geht er oder harrt er mit uns aus?»

Datum: 16.06.2020
Autor: Mirjam Fisch-Köhler
Quelle: idea Schweiz

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